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tarot

   Es passiert schon wieder. Björn sitzt auf dem Bett und hört, wie Udo im Wohnzimmer telefoniert. Plötzlich wird es ganz still in ihm. Udos Stimme verschwindet in seinem Hinterkopf, klingt weit weg, obwohl er jedes einzelne Wort ganz deutlich versteht. Die Dinge um ihn herum bekommen ein weiches, wattiges Aussehen, und er sieht alles aus großer Entfernung, als ob er am anderen Ende eines Tunnels etwas erspähen würde. Schweißperlen sammeln sich auf seiner Oberlippe und mit einer fahrigen Bewegung leckt er mit seiner Zunge über die salzige Feuchtigkeit. Panik steigt in ihm hoch.

    Er versucht, nach Udo zu rufen, aber aus seinem Mund kommt kein Laut. Am rechten Rand seines Blickfeldes erscheint eine schwarze Wolke, die langsam größer wird. Er hat sie beim letzten Mal `Das schwarze Loch' getauft. Wenn sie sein gesamtes Blickfeld einnimmt, wird er sich nie wieder aus diesem Gefängnis befreien können.

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Jan

Drachenzeit

Ku-Klux-Klan

Der Mann im Mond

Tarot

Die rote Flut

   Nichts. Die Wolke wird größer. Seine Kehle schnürt sich langsam zu. Er hat entsetzliche Angst. Das Gefühl völliger Ohnmacht, seinem kranken und nicht mehr funktionstüchtigen Gehirn hilflos ausgeliefert zu sein, macht ihn fast verrückt. Wieder versucht er verzweifelt zu schreien, aber die Worte verhallen in seinem Kopf. Er merkt, wie ihm die Tränen die Wangen herunterlaufen. Ihm wird kalt. Das Fenster hat Udo gerade aufgemacht, um durchzulüften. Gedanken, völlig wirr und unzusammenhängend, drehen sich in ihm.

    Ich halte das nicht aus, denkt Björn. Ich halte das nicht aus! Lieber Gott, bitte nicht so!

    Endlich öffnet sich sein Mund, und ein gequälter Laut dringt aus seiner Kehle wie von einem Tier, das auf der Jagd angeschossen und verwundet zurückgelassen wurde. Er hört, wie Udo den Hörer auf die Gabel wirft und ins Schlafzimmer gerannt kommt.

    "Björn?", ruft er."Komm, ich bin da. Ich bin ja da." Er nimmt seinen Freund in seinen Arm und hält ihn ganz fest. Björn fängt an zu zittern. Der Anfall wird schwächer.

    "Udo", stottert Björn. Nichts in seinem Wortschatz entspricht dem Grauen, das er gerade erlebt hat. "Udo, nicht loslassen, nicht loslassen!"

    "Schsch." macht Udo. "Es ist vorbei." Er streicht ihm die nassen Haare aus dem Gesicht und drückt ihn an sich. "Es ist vorbei, Björn."

    Sie sitzen zusammen am Küchentisch und beobachten, wie die Strahlen der Frühlingssonne langsam über den Küchentisch kriechen. Im Hintergrund brodelt die Kaffeemaschine und im Radio plärrt leise Country und Western-Musik. Es wird Björns letzter Frühling sein.

    Udo sieht seinen Freund an, und wieder schießen ihm die Tränen in die Augen. In letzter Zeit könnte er dauernd heulen. Als ob seine Tränendrüsen Sonderschichten eingelegt hätten und die Lagerkapazitäten für die überschüssige Flüssigkeit ausgeschöpft sei. "Warum willst du aufgeben?", fragt er Björn trotzig. "Es gibt bestimmt noch irgendetwas, das dir helfen kann! Da war doch neulich so ein Bericht..."

    "Udo!", sagt Björn genervt, weil sie diese Diskussion jetzt schon zum unzähligsten Male führen. "Eine Encephalopathie ist eine Encephalopathie. Es gibt keine Medikamente dagegen!"

    Udo legt schluchzend den Kopf auf die Tischplatte. Björn ist erschrocken. All die letzten Jahre hat ihn sein Mann aufrecht gehalten, hat ihm Mut gemacht und Kraft gegeben; wegen ihm hatte er einen Grund weiterzukämpfen, und jetzt bricht er zusammen?

    Udo sitzt am Tisch wie das sprichwörtliche Häufchen Elend, sein Oberkörper bebt, und seine Tränen vermischen sich mit den Kaffeeflecken auf seinem Platz. Björn ist unfähig, irgendetwas zu sagen.

    "Es ist nur ... ich hab so entsetzliche Angst, dich zu verlieren!", sagt Udo, nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, und zieht die Nase hoch. Er sieht seinen Freund mit tränenverschmiertem Gesicht hilflos an.

    Gedankenverloren streichelt Björn ihm über den Kopf, die kurzen blonden Haare des Bürstenschnitts unter seinen Fingern hinweggleitend. Als sie vor fünf Jahren gemeinsam zum HIV-Test gegangen waren und Udo mit einem negativen und Björn mit einem positiven Testergebnis herauskam, war Udo derjenige, der Björn vor seinen eigenen Kurzschlussreaktionen bewahrte; der ihm wieder und wieder eintrichterte zu kämpfen, der ihnen eine gemeinsame Zukunft heraufbeschwor, der sich nicht abwimmeln ließ, auch als Björn ihn ein paar Mal aus der Wohnung warf, um ihn genau vor diesem Augenblick zu bewahren.

    Björn seufzt. "Wir haben immer gewusst, dass dieser Moment irgendwann kommt", sagt er. "Wir haben uns nie vormachen müssen, dass ich überleben werde, oder? Willst du jetzt damit anfangen? Und warum macht dich das jetzt so fertig?"

    Udo sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und lächelt traurig. "Weil dieser Moment jetzt da ist", sagt er leise.

    Schwerfällig steht Björn auf, geht vor Udo in die Hocke und legt seinen Kopf in dessen Schoß. "Glaubst du, ich bin glücklich darüber? Glaubst du, es macht mir Spaß, mit so einer Diagnose herumzulaufen? Udo ..." Björn schluckt. "Mach es uns doch nicht so schwer."

    Udo schnaubt verächtlich auf. "Du hast gut reden!" sagt er plötzlich heftig und springt auf. "Weißt du, was ich denke? Du bist einfach feige! Wenn du krank wirst, werde ich derjenige sein, der merkt, dass von deinem Gehirn jeden Tag ein Stückchen weniger da ist, ich werde es sein, der dich davon abhalten muss, Papierschnipsel zu essen oder in die Ecke zu pissen! Ich werde dir den Arsch abwischen, wenn du dich vollscheißt, ich werde dich mit Alete-Breien füttern, wenn du nichts anderes mehr schlucken kannst. Und wenn ich das aushalten kann, warum kannst du es nicht? Ich werde an deinem Grab stehen, wenn du tot bist! Ich werde derjenige sein, der übrig bleibt, und zwar immer mit der Erinnerung, was mal zwischen uns war und was vielleicht immer noch sein könnte, wenn du nicht irgendwann, ohne mich zu fragen, beschlossen hättest, den Kampf gegen dieses bescheuerte Virus aufzugeben und dich einfach davonzustehlen!"

    Björn glaubt einfach nicht, was er da hört, noch dazu von seinem eigenen Freund. Jedes Wort ist wie eine Ohrfeige. Es kommt ihm vor, als sei es ein Fremder, der da durch die Küche tobt.

    "Ja!" schreit er wütend zurück. "Mag schon sein, dass das alles passiert, und dass du zum Schluss an meinem Grab stehen wirst, aber erstens hat dich niemand dazu gezwungen, und zweitens wirst du überleben! Ich werde sterben! Du hast noch dreißig oder vierzig Jahre vor dir! Kannst du dir vorstellen, was es für ein Gefühl ist, mit 28 Jahren zu wissen, dass man vielleicht nicht mehr als nur noch ein Jahr vor sich hat? Du Arsch! Aber wenn ich schon abkratzen muss, dann will ich wenigstens diese letzte Entscheidung eigenhändig treffen können, nämlich, wann es genug ist! Wenigstens das will ich mir von dem Virus nicht wegnehmen lassen!"

    Udos Gesicht ist ganz rot angelaufen wie immer, wenn sie sich streiten. Er fängt an, am ganzen Körper vor Wut zu zittern. Sie haben sich schon oft gestritten, manchmal über wichtige Sachen, meistens über unwichtige Kleinigkeiten, aber diesmal ist es anders. Dieser Streit geht an die Substanz ihrer Beziehung.

    Udo fängt ganz leise an zu reden, und Björn läuft der Angstschweiß über den Rücken. Er will nicht hören, was Udo ihm sagen wird. "Nur weil du stirbst, hast du nicht das Monopol auf Traurigkeit", zischt Udo drohend und sieht seinem Freund kalt in die Augen. "Wenn du aufhörst zu kämpfen, gibst du nicht nur dich selber auf, sondern auch unsere Beziehung. Und ich denke nicht daran, von dir mit einem billigen 'Danke für die schöne Zeit, Udo' abgespeist zu werden. Du lebst nicht für dich allein! Du hast nicht das Recht, alleine darüber zu entscheiden, ob du den Kampf aufgibst. Nicht nach sechs Jahren Beziehung!" Damit dreht er sich um, schnappt sich im Flur seine Lederjacke vom Haken und knallt die Wohnungstür hinter sich zu, ohne Björn eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Schritte verhallen im Hausflur. Björn ist allein.

    Er schaltet das Radio, das immer noch penetrant gute Laune verbreitet, aus und lässt sich wieder auf einen der Küchenstühle fallen. Jetzt ist es ganz still in der Wohnung. Nur vereinzelt dringt durch das geschlossene Fenster das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens. Timo, ihr schwarz-weiß gescheckter Kater, springt auf den Tisch und leckt Björn mit seiner rauhen Zunge durchs Gesicht. Björn fühlt sich furchtbar. Normalerweise laufen ihre Streitereien so ab, dass sie sich heulend in die Arme fallen, wenn sie sich genug angeschrien haben. Zur Versöhnung gehen sie dann meistens miteinander in die Kiste, und dann ist alles wieder in Ordnung. Es ist noch nie passiert, dass einer von ihnen im Streit die Wohnung verlassen hat.

    Udo hat seine Zigaretten auf dem Tisch liegen lassen.

    Geschieht ihm ganz recht, denkt Björn patzig und zündet sich eine an, obwohl er sich vor einem Jahr das Rauchen abgwöhnt hat. Nur in stressigen Situationen, so wie jetzt, wird er rückfällig.

    Je mehr er über ihren Streit nachdenkt, desto wütender wird er auf Udo.

    Nein! denkt er. Er hat nicht das Recht, mir vorzuschreiben, dass ich alles bis zum bitteren Ende durchstehen muss, nur damit er den Moment des Alleinseins, des Ohne-mich-seins, noch etwas länger hinausschieben kann, vielleicht ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate. Ich bin es, der krank ist, und ich bin es auch, der bestimmt, wann mein Leben aufhört. Und ich will nicht mitbekommen, wie von dem Mann, der ich jetzt noch bin, immer weniger übrig bleibt. Zuerst vergesse ich nur, was ich gerade sagen wollte, dann vergesse ich, den Wasserhahn der Badewanne abzudrehen. Irgendwann vergesse ich, wo ich wohne, und zum Schluß weiß ich vielleicht nicht mal mehr, wer Udo ist und habe den IQ einer Banane. Nein. Es ist mein Leben, und ich werde bestimmen, wann es zu Ende ist. Udo und ich haben das vor Jahren besprochen, und er war damals einverstanden. Jetzt ist es soweit.

    Björn steht auf und krault Timo den Nacken. Dann schreibt er Udo eine kurze Nachricht, wo er ist, und geht ebenfalls aus dem Haus. Udo wird wissen, was er vorhat. Er geht zu Nane.



    Björn hat Udo auf einer Beerdigung kennen gelernt. Damals, vor sechs Jahren, gehörte es fast zum guten Ton, wenigstens drei- bis viermal im Jahr auf einer Beerdigung gewesen zu sein. Man hätte den städtischen Friedhof in den Spartacus als 'cruising area' aufnehmen können. Sie starben wie die Fliegen. Klaus, der Mann, den sie beerdigten, war ein Bekannter von Björn gewesen, sie hatten im selben schwulen Sportclub ab und zu Squash gegeneinander gespielt. Er hatte ihn nicht sehr gut gekannt: sie waren nie miteinander im Bett gewesen und hatten noch nicht einmal denselben Bekanntenkreis. Deshalb langweilte Björn sich auch ein wenig auf dieser Beerdigung. Es war kaum jemand da, den er kannte, und die Trauerfeier an sich lief auch nach einem ihm mittlerweile nur allzu bekannten Schema ab: erstes Lied Gloria Gaynor 'I will survive', danach Ansprache eines Pfarrers oder Freundes, zweites Lied Whitney Houston 'I will always love you' - mit garantiertem Zusammenbruch des Freundes, soweit vorhanden - und dann ab in die Grube. Ein besonderes Maß an Originalität konnte man Klaus damit wirklich nicht nachsagen.

    In den vorderen zwei Reihen saßen Klaus´ Familienangehörige, alle in schwarzen Anzügen und Kleidern, und versuchten, ein angemessenes Maß an Trauer über den Tod ihres schwulen Sohnes, Bruders und Neffen an den Tag zu legen. Allerdings war ihnen anzumerken, dass sie unsicher darüber waren, was in diesem Zusammenhang angemessen war, vor allen Dingen, da die Worte 'schwul' und 'Aids' Tabu waren. Einige bohrende Blicke der Mutter und des Bruders nach hinten gaben der Empörung darüber Ausdruck, dass sich tatsächlich einige schwule Freunde auf diese Beerdigung getraut hatten. Björn seufzte. Auch dieses Verhaltensmuster war mittlerweile gut bekannt: Im Tod nimmt die Familie den ausgestoßenen Sohn wieder in ihre Mitte auf, und wehe, der schwule Freundeskreis des Toten kommt ihnen zu nahe! Von Aids war während der Trauerfeier natürlich keine Rede. Diese Scheinheiligkeit widerte Björn an. Aber gerade darum fühlte er sich damals berufen, Präsenz zu zeigen.

    Udo saß im hinteren Bereich der Trauerhalle und schien mit zwei oder drei Männern gekommen zu sein, die Björn flüchtig aus der Szene kannte. Er war Björn direkt aufgefallen, weil Udo ihn bei seinem etwas verspäteten Eintreffen ziemlich intensiv gemustert hatte. Björn hatte ihn vorher noch nie gesehen. Er war ungefähr sein Alter, groß, kurze blonde Stoppelhaare, schwarze Lederjacke, schwarze Jeans. Bullig. Glattrasiert. Dazu ein unschuldiger Gesichtsausdruck, der durch die einen flüchtigen Augenblick vorgeschobene Unterlippe noch verstärkt wurde. Aber was Björn am meisten faszinierte, waren die stechend grünen Augen, so grün, dass man fast das Gefühl hatte, in die Augen einer Katze zu blicken. Während der Ansprache des Priesters schaute er immer mal wieder über seine Schulter und blieb jedesmal an Udo hängen, der ihn die ganze Zeit durchdringend anstarrte, anstatt wie sonst bei einer normalen Anmache üblich, nach einem kurzen ersten Blickkontakt die Augen schnell weiterschweifen zu lassen. Das gefiel Björn. Ein Mann, der sich nicht an die schwulen Konventionen hielt und offensichtlich und demonstrativ auf einer Beerdigung anbaggerte und dann auch noch ihn! Er fühlte sich geschmeichelt. Und er hatte eine Latte in der Hose.

    Nach dem Ende der Trauerfeier kam Udo direkt auf ihn zu. "Hi", sagte er und sah Björn etwas verlegen an. "Es mag zwar ein bisschen makaber sein im Hinblick auf die Umstände", dabei deutete er mit dem Kopf nach hinten auf die Trauerhalle, "aber das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, dich kennenzulernen. Und das will ich unbedingt, weil..." Er begann zu stottern, "du ... du siehst so schweinegeil aus! Magst du mit mir einen Kaffee trinken gehen?"

    Björn musste grinsen. "Wenn du mir deinen Namen sagst, überlege ich es mir vielleicht."

    "Udo."

    "Hallo Udo", sagte Björn. "Ja, ich denke schon, dass wir einen Kaffee zusammen trinken, und - " er sah ihn schmunzelnd an, "vielleicht auch noch ein bisschen mehr ... schon allein aus dem Grund, weil ich noch nie auf einer Beerdigung angemacht worden bin. Ich bin übrigens Björn."

    Udos Augen blitzten auf. Und in dem Moment wusste Björn, dass dieser Mann sein Mann werden würde. Er atmete unwillkürlich tief durch. Ja, diesen Mann wollte er!

    Er packte Udo in sein Auto, und sie fuhren stadteinwärts. Ohne dass sie etwas hätten sagen müssen, wussten sie beide, dass sie in Björns Wohnung fuhren und den Kaffee auf später verschieben würden. Unterwegs machten sie belanglosen Smalltalk, wobei sie feststellten, dass sie beide Klaus nicht sonderlich gut gekannt hatten. Udo ließ während der Unterhaltung keinen Blick von Björn, und wie selbstverständlich legte er seine Hand auf dessen Oberschenkel. Björns Schwanz wurde wieder steif.

    "Was ist", knurrte er Udo an, "willst du ihn mir gleich hier blasen? Kannst du haben, du brauchst nur die Hose aufzumachen!"

    Udo lachte und leckte sich demonstrativ die Lippen.

    Geil, dachte Björn, eine richtige Drecksau!

    Zu Hause angekommen, riss Björn sich die Sachen vom Leib und drehte sich um. Udo stand an die Wand im Flur gelehnt, hatte die Hände vor der Brust verschränkt und beobachtete ihn. Björn war irritiert. "Was ist los?", fragte er. "Hast du es dir anders überlegt?"

    Udo schüttelte den Kopf. "Nein. Aber ich mache Sex ganz gerne in Klamotten, und außerdem mag ich es gerne etwas härter." Dabei glitzerten seine Augen, und seine Haltung nahm etwas Raubtierartiges an, als wäre er kurz vor dem Sprung, die anvisierte Beute zu erlegen.

    Björn musste schlucken. Dieser Mann hatte genau das, was er brauchte. Udo zog ihn an sich heran und gab ihm einen langen, tiefen Kuss. Björns Nackenhaare sträubten sich. Dann packte Udo ihn, schob ihn in die Küche und drängte ihn auf den Küchentisch. "Ich will dich ficken!" flüsterte er Björn ins Ohr, als er sich über ihn beugte. Björn nickte. Udo machte die Knöpfe seiner Hose auf, holte seinen steifen Schwanz heraus, zog ein Gummi darüber und drang ohne zu zögern in ihn ein. Björn stöhnte laut auf. Sie sahen sich in die Augen, und dann stieß Udo zu, mit einem verächtlichen Zug um seinen Mundwinkel, der Björn noch geiler machte.

    "Lass dich einfach gehen", sagte Udo heiser. "Du brauchst keine Angst zu haben, ich passe auf uns beide auf. Lass dich einfach fallen. Zeig mir, wie weit du gehen kannst!" Björn krallte sich in Udos muskulösen Oberarmen fest und ließ los.

    Später lagen sie dann verschwitzt und ausgepowert im Schlafzimmer im Bett. Udo kuschelte sich an Björn an und fuhr mit seinem Finger über seinen Oberkörper. "Mhm", sagte er. "Du hast so viele Haare auf der Brust. Geil."

    Björn musste lachen, während der wohltuende Schmerz an seinen Brustwarzen langsam nachließ. "Du bist ein merkwürdiger Kerl! Beim Sex den Macho herauskehren und jetzt den Kuschelbären spielen!"

    Udo stützte sich auf seine Ellenbogen und sah ihn an. "Stört dich das?", fragte er. "Ich finde, das eine muss das andere nicht ausschließen."

    "Nein", antwortete Björn. "Es stört mich nicht. Im Gegenteil. Aber diese Mischung aus Härte und Zärtlichkeit findet man ziemlich selten."

    "Ja, das mag sein. Ich hab keinen Bock, in eine Schublade gesteckt zu werden." Udo begann, wieder leicht an seinen Brustwarzen zu ziehen. "Wie wär' s mit noch einer Runde? Ich kann nochmal. Du auch?"

    Björn nickte grinsend. "Wenn du mir versprichst, danach nicht sofort abzuhauen."

    Udo schüttelte den Kopf und fing an, an Björns Ohrläppchen zu knabbern. "Nein", sagte er. "Ich hab so das Gefühl, dass ich dich eine ganze Weile nicht in Ruhe lassen werde." Er lachte leise.

    "Was ist so komisch?" fragte Björn.

    "Ich denke gerade, dass Klaus eigentlich ganz zufrieden mit dem Ergebnis seiner Beerdigung sein kann." Dann nahmen seine Augen erneut den herausfordernden, kühlen Ausdruck des Machos an, und sie konzentrierten sich wieder aufeinander.



    Durchgeknallt. Upgespaced. Völlig daneben. All diese Formulierungen beschreiben Nane zutreffend und werden ihr doch nicht gerecht. Sie lebt in einer Art Haus-WG in einem großen heruntergekommenen Haus in der Südstadt. Ihre Wohnung hat sie als eine Art Verbeugung vor ihrem Idol Yves Klein knatschblau gestrichen und die Wände mit Bravo-Postern von den Popgruppen der siebziger Jahre vollgehängt: Boney M, Abba, Sweet ... wenn Björn sich die Mode auf diesen Postern ansieht, die Plateausohlen und die Jeans mit dem weiten Schlag, wird ihm heute noch ganz schlecht. Aber das war die Zeit, in der sie groß geworden sind, und das ist auch die einzige Musik, die Nane hört.

    Nane ist Björns beste Freundin, so wie fast jeder Schwule eine beste Freundin hat. Ihre Freundschaft besiegelten sie, als Nane in der zehnten Klasse ihren gemeinsamen Mathelehrer als Arschloch titulierte. Allerdings hatte Herr Färner Björn vorher vor der versammelten Klasse als 'schwule Sau' bezeichnet, weil er ihn auf dem Schulklo beim Fummeln mit einem Mitschüler erwischt hatte. Danach, als sie beide aus der Klasse geflogen waren, gingen Nane und Björn in eine nahegelegene Kneipe, ließen sich voll laufen und schworen sich ewige Freundschaft. Was sie bis heute auch durchgehalten und nicht bereut haben. Sie beklagt sich bei Björn über ihre Hetero-Männerbekanntschaften, er weint sich bei Nane aus, wenn Udo und er eine Krise haben. Meistens endet das Ganze in einem Besäufnis und dem Geständnis, dass eigentlich sie beide füreinander geschaffen seien, wenn Nane nicht hetero und Björn nicht schwul wäre.

    Als Björn die Treppen hochgeht, plärrt ihm schon 'Sugar baby love' von den Rubettes entgegen, und er hört Nane durch die geschlossene Wohnungstüre mitgrölen. Nachdem er mehrere Minuten Sturm geklingelt hat, öffnet sie endlich die Türe.

    "Hi, Mäuschen!" sagt sie, ohne überrascht zu sein. Sie ist es gewohnt, dass Björn ohne Anmeldung auftaucht. "Sieh mal, ich habe eine knattergeile neue Nagellackfarbe entdeckt. Wie findest du sie?" Sie streckt ihm ihre halblackierten Fingernägel entgegen, die von einer Schicht Farbe bedeckt sind, die man nur als widerlich bezeichnen kann.

    "Widerlich", sagt Björn. "Und hör auf, mich immer Mäuschen zu nennen."

    "Warum? Das tut Udo doch auch."

    "Tut er nicht."

    "Ach, nicht?" sagt Nane und schiebt ihn in die Küche. "Was sagt er denn zu dir?"

    "Im Moment gar nichts", brummt Björn vor sich hin.

    Nane wirft ihm einen scharfen Blick zu. Dann macht sie die Musik leiser, stellt ihm einen Kaffee vor die Nase und setzt sich zu ihm. "Ehekrach?" fragt sie, während sie sich darauf konzentriert, ihre Fingernägel weiter zu verunstalten.

    Björn seufzt und schüttelt langsam den Kopf. Dann steigen ihm die Tränen in die Augen. "Es ist alles so beschissen!", sagt er mit belegter Stimme. Dann gibt er sich einen Ruck. Er hat es sich vorgenommen, und er will es auch so. Die Alternative ist für ihn einfach zu schrecklich.

    Ich will es mir und Udo nicht antun, als ein Bündel Gemüse dahinzuvegetieren, denkt Björn, und die Erinnerung an die sechs schönen Jahre, die wir hatten, einfach wegwischen mit der Erinnerung an sechs Monate oder ein Jahr voller Quälerei.

    "Ich will die Pillen sehen", sagt er dann zu Nane.

    Sie sieht auf, runzelt die Stirn und atmet tief durch. Dann nickt sie und steht langsam auf. Im Wohnzimmer, dessen Einrichtung einzig und allein aus einem schweren dunklen Eichenschrank und ein paar auf dem Boden verstreuten Kissen besteht, holt sie aus einer Ecke einen kleinen Karton. Dann kommt sie wieder in die Küche zurück und stellt das Paket vor ihn auf den Tisch.

    "Hier", sagt sie und zündet sich eine Zigarette an. Ihre Hände zittern ein wenig. "Deine gesammelten Schlaftabletten von über zwei Jahren. Genug, um eine Kompanie griechischer Schafhirten auszurotten."

    Vor etwas über zwei Jahren hat Björn mit Nane eine Übereinkunft getroffen. Damals hatte er gerade seine erste Lungenentzündung hinter sich gebracht. Wochenlang hatten sie ihn im Krankenhaus behalten, angeschlossen an diverse Infusionen, endlose Untersuchungen: Blutabnahmen, EEG´s, EKG´s, Lungenfunktionstests, Bronchoskopien... Er war völlig kraftlos gewesen, depressiv, hatte sieben Kilo abgenommen. Aber was ihn am meisten fertig gemacht hatte, war dieses Gefühl des Ausgeliefertseins gewesen, diese Ohnmacht und diese Hilflosigkeit, nicht mehr selbst bestimmen zu können, was er wollte. Zwar hatten ihn ständig Freunde besucht, und Udo hatte ganze Tage und Nächte an seinem Bett verbracht, aber Björn hatte einen ersten Vorgeschmack darauf bekommen, wie es sein würde, dem Virus völlig ausgeliefert zu sein. Und dieses Gefühl wollte er nie wieder haben. Nie wieder nicht Herr über sein eigenes Leben sein, nie wieder abhängig sein von anderen, auch nicht von Udo.

    Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, mit gutgemeinten Ratschlägen der Ärzte, es in Zukunft etwas langsamer angehen zu lassen, hatte er in einer ruhigen Minute Nane beiseite genommen und ihr erzählt, was er vorhatte.

    Von seinem Hausarzt, dem er einige Zeit vorher etwas von Schlafproblemen erzählt hatte, bekam Björn regelmäßig ziemlich starke Schlaftabletten verschrieben. Wenn er weiterhin genug davon sammelte, würden sie irgendwann ausreichen, um ihn umzubringen. Nanes Aufgabe bei dieser Abmachung war es, ihn vor Kurzschlusshandlungen zu bewahren und für ihn die Hüterin der Pillen zu spielen. Eine Art Sicherheitsventil. Nur wenn die Tabletten außerhalb seiner sofortigen Reichweite seien, darüber waren sich Björn und Nane einig, war gewährleistet, dass er sie nicht unüberlegt während eines depressiven Anfalls einwerfen würde. Nane erklärte sich bereit, ihm die Pillen nach einem intensiven Gespräch auszuhändigen, wenn er sie darum bat. Und darauf konnte er sich verlassen, das wusste Björn.

    Schwierig war es nur gewesen, Udo die ganze Sache beizubringen, ihn von seiner Entscheidung zu überzeugen, irgendwann Selbstmord zu begehen, bevor das Virus den Björn, den Udo kannte, auslöschte. Die beiden hatten den bis dahin größten Krach ihrer Beziehung, Udo hatte getobt und Björn angeschrien, er würde ihn aus seinem Leben ausschließen, und sich anschließend zwei Tage lang besoffen. Erst als Björn ihn davon überzeugen konnte, dass alles nur eine Vorsichtsmaßnahme für die Zukunft sei, hatte er schließlich der Idee keinen Widerstand mehr entgegengesetzt, wohl in der Hoffnung, sein Freund stünde noch unter dem Schock der gerade überstandenen Lungenentzündung und würde die Sache mit der Zeit vergessen.

    Björn sieht den Karton wie hypnotisiert an und traut sich nicht hineinzuschauen.

    "Und?" sagt Nane. "Bist du dir ganz sicher?"

    "Ja", sagt Björn und sieht sie an. "Ja, ich bin sicher."

    "Warum? Ich meine, warum jetzt?" Ihre Stimme klingt zittrig.

    "Erinnerst du dich daran, dass ich dir vor einigen Wochen erzählt habe, dass ich manchmal so merkwürdige Aussetzer habe? Es ist, als ob sich für kurze Zeit schwarze Löcher in meinem Kopf auftun. Ich sehe alles, was sich um mich herum tut, kann auch alles begreifen, aber ich kann mich weder bewegen noch irgendetwas sagen. Als würde ich in einer Art Zeitblase existieren, und die Realität um mich herum geht weiter, während ich nur zuschauen kann. Es ist, als ob man schreit und schreit, und niemand hört einen. Wie in einem Gefängnis. So ähnlich stelle ich mir den Vorhof zur Hölle vor. Es ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Jedenfalls - Udo und ich waren vor zwei Wochen beim Doc, und er hat nach einigem Hin und Her eine besondere Art der Encephalopathie bei mir festgestellt. Nennt sich PML oder so ähnlich. Überlebensdauer: drei Monate bis maximal ein Jahr. Das Virus hat sich bei mir im Gehirn eingenistet, und in ein paar Wochen werde ich die Intelligenz einer Tomate besitzen."

    "Was ist mit Medikamenten?"

    Björn schüttelt den Kopf. "Nichts, was derzeit auf dem Markt ist, ist in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke so effektiv zu überwinden, dass eine Encephalopathie geheilt werden kann."

    Er sieht, wie Nane die Tränen in die Augen steigen. "Verdammt!", flucht sie und versucht krampfhaft, ein Lächeln aufzusetzen. "Ich kann dich doch nicht einfach so die Pillen schlucken lassen! Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit?" Und dann fängt sie tatsächlich an zu weinen.

    In Björn laufen zwei Filme gleichzeitig ab. Zuerst denkt er, dass ja schon ziemlich viel um ihn geheult wird, obwohl er noch gar nicht tot ist. Dann wird er nervös. Will Nane jetzt einen Rückzieher machen? Will sie ihren Teil des Deals nicht mehr einhalten? Er legt tröstend einen Arm um ihre Schulter und versucht, ruhig zu bleiben. "Nane", sagt er dann, "ich will, dass Udo mich so in Erinnerung behält, wie ich jetzt bin, und nicht als Vollidioten, der nicht einmal mehr seinen Namen weiß. Ich will das weder mir noch ihm antun."

    "Und das hast du deinem Mann auch schon beigebracht?" fragt sie und schneuzt laut in ein Taschentuch.

    Björn sieht Nane schweigend an. "Ja", sagt er leise. "Heute morgen beim Frühstück."

    "Und?"

    "Er hat angefangen zu heulen, dann hat er mich angeschrien, ich hätte nicht das Recht, diese Entscheidung alleine zu treffen, und dann hat er wutschnaubend die Wohnung verlassen."

    Nane steht auf, geht zum CD-Player und legt eine andere CD auf. Aus den Boxen erklingt der Anfang von Mike Oldfields 'Tubular bells'.

    "So", sagt sie und atmet tief durch. " Viel besser. Ich brauchte eine dem Anlass entsprechende Hintergrundmusik."

    Entgegen seinem Willen muss Björn lächeln. Nane hat die wunderbare Fähigkeit, angespannte Situationen mit Kleinigkeiten zu entkrampfen. Obwohl er sich noch immer beschissen fühlt, weil Udo und er sich so gestritten haben, entspannt er sich etwas.

    "Und was willst du jetzt tun?"

    Björn nimmt einen Schluck von dem inzwischen kalten Kaffee und verzieht das Gesicht. "Ich werde die Tabletten trotzdem schlucken. Wenn´s sein muss, auch ohne Udo. Ich habe ja immer noch dich!", sagt er trotzig und sieht sie flehend an.

    "Nein, Björn", sagt Nane. "Das ist nicht meine Aufgabe." Als er ihr dazwischenreden will, hebt sie die Hand. "Ich habe zwar meine Probleme damit, dir die Tabletten zu geben, aber ich werde es tun, wenn es wirklich das ist, was du willst." Er atmet unmerklich auf. "Ich setze mich auch an dein Bett", fährt Nane fort, "wenn sie anfangen zu wirken. Das ist okay für mich. Ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du es dir vorher gut überlegt hast. Aber ich werde das nicht alleine tun! Es ist Udos Aufgabe, bei dir zu sein, wenn du einen Abgang machen willst. Er ist dein Mann. Er hat die letzten sechs Jahre mit dir zusammen gelebt. Glaubst du wirklich, er würde es sich selber und mir und dir jemals verzeihen, wenn du das ohne ihn tust?"

    "Aber er will doch nichts damit zu tun haben!", ruft Björn gequält. "Du hättest mal sehen sollen, wie er aus der Wohnung gestürmt ist! Wir haben uns noch nie so gestritten! Ich weiß ja nicht mal, ob er überhaupt wiederkommt." Seine Augen irren in der Küche umher wie ein in die Ecke gehetztes Tier. "Verdammt, verdammt!", flucht er dann. "Als wir vor zwei Jahren darüber gesprochen haben, war er damit einverstanden! Warum lässt er mich jetzt im Stich? Ich tue es doch auch für ihn!"

    Nane verzieht verächtlich das Gesicht. "Blödsinn! Red dir doch das nicht ein! Du tust es, weil du Angst hast, Banane in der Birne zu werden, und nicht, weil du Udo einen Gefallen tun willst! Spiel hier nicht den edlen Selbstmörder!"

    Björn schweigt. Schließlich sagt er: "Ja, kann sein. Stimmt vielleicht. Aber er ist mein Mann. Er sollte zu mir stehen bei allem, was ich tue."

    "Ach", sagt Nane spöttisch, "er darf also keine Kritik üben, auch dann nicht, wenn er dich durch deine Handlungen verliert?"

    "Jetzt dreh mir nicht das Wort im Mund um!", sagt Björn wütend. "Du weißt genau, wie ich das gemeint habe."

    "Björn!" Nane nimmt sein Gesicht in ihre Hände und sieht ihm in die Augen. "Dieser Mann liebt dich! Du kannst nicht einfach deinen Selbstmord durchziehen, ohne dich vorher mit ihm versöhnt zu haben. Wenn es soweit ist, wirst du ihn brauchen. Du wirst ihn an deiner Seite haben wollen, wenn es soweit ist. Nicht mich! Du musst ihn überzeugen, dass es richtig ist, was du da vorhast."

    Jetzt ist Björn derjenige, der mit den Tränen kämpfen muss. "Ich bin mir nicht mehr sicher, dass er mich noch liebt", sagt er leise. "Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen wie vorhin! Scheiße! Ich habe solche Angst vor dieser dämlichen Encephalopathie! Wenn ich es nicht tue, wird er mich eines Tages hassen, wenn ich als sabberndes Bündel in meinem Bett liege und ihm nur noch auf die Nerven gehe! Er wird mich voller Ekel ansehen und denken, warum hat er es damals nicht getan! Warum hat er die Pillen nicht eingeworfen, als er noch eine klare Entscheidung treffen konnte! Und diesen Gedanken finde ich unerträglich! Dadurch wird alles zerstört, was Udo und ich mal hatten."

    Nane steht auf und geht zum Küchenschrank. Aus der hinteren Ecke, eingequetscht zwischen eingestaubten Gläsern und halbleeren Marmeladentöpfen holt sie ein Päckchen Karten hervor, kommt damit an den Tisch und setzt sich wieder. Björn ahnt, was jetzt kommt.

    "Das ist jetzt nicht dein Ernst!" sagt er ungläubig. "Du weißt genau, dass ich an so einen Scheiß nicht glaube!"

    "Ob du daran glaubst oder nicht, spielt keine Rolle", sagt Nane und sieht ihn an, während sie ihm die Karten zum Mischen hinhält. Ihre Augen dulden keinen Widerspruch. "Du wirst dir jetzt einen Tarot legen! Ich sage ja gar nicht, dass du deine Entscheidungen von irgendwelchen Karten abhängig machen sollst, aber sie können dir vielleicht helfen, jetzt etwas klarer zu sehen. Konzentrier dich auf die nächste Zukunft!"

    "Also schön", sagt Björn seufzend. Nane hat manchmal einfach diesen esoterischen Tick, und man muss ihr Spielchen dann einfach mitspielen. Was soll´s, Hauptsache, er kann nachher die Tabletten mitnehmen. "Wieviele Karten muss ich ziehen?", fragt er betont gelangweilt, als er mit Mischen fertig ist.

    "Nur eine."

    Björn zieht eine Karte aus der Mitte des Fächers und starrt entgeistert auf das Bild. Es sind 'Die Liebenden'.



    Seit seinem letzten Aufenthalt in der Klinik aufgrund der Lungenentzündung hat Björn eine absolute Krankenhausphobie. Er hasst diese kalten, weißen, sterilen Räume, die unpersönliche Atmosphäre, in der Krankheiten und persönliche Schicksale zu routinemäßigen Aktenvorgängen verkommen, er hasst die langen hallenden Flure, in denen mit kümmerlichen Grünpflanzen und nichtssagenden Bildern die Öde der leeren Wände verdeckt werden soll.

    Ganz besonders schlimm ist die HIV-Ambulanz. Hier riecht es überall nach Desinfektionsmittel und Angst. Weißgekleidete Schwestern und Pfleger huschen mit betont guter Laune über die Gänge und in die Behandlungszimmer, im Warteraum verteilen strahlende Ehrenamtler der örtlichen Aids-Hilfe Kaffee und Kekse, während um sie herum das Grauen aus den Augen der Infizierten und Kranken springt. Diese ganze aufgesetzte Scheinheiligkeit macht Björn jedesmal so wütend, dass er Atemnot bekommt. Aber er hat auch keine Ahnung, wie anders man mit einer Krankheit umgehen kann, deren Ausgang immer tödlich ist und deren Ausprägungen jedem Horrorfilm Konkurrenz machen können. Vielleicht ist es gerade der Wille, das Ganze als ein Spiel mit dem Titel 'Wir-sitzen-hier-nur-zusammen,-trinken-Kaffee-und-tratschen' anzusehen, der jedem einzelnen die Möglichkeit gibt, inmitten des Elends wenigstens einen Teil seiner Würde und seiner Hoffnungen zu bewahren. Er weiß es nicht.

    Es waren zwei Tage nach seinem letzten Anfall vergangen. Und jetzt ließ sich ein Tag in der Ambulanz einfach nicht mehr verschieben. Udo hatte darauf bestanden. Björn dachte immer, einschneidende Ereignisse in seinem Leben würden von ebenso dramatisch erscheinenden äußeren Umständen begleitet, aber als Udo die Tür der Ambulanz für ihn aufhielt, ihm fest in die Augen sah und stumm seine Hand drückte, war draußen schönes Frühlingswetter, die Sonne schien, und es zwitscherten sogar irgendwo Vögel.

    Soweit zum passenden Ambiente, dachte Björn. Gott scheint wohl gerade `Der Zauberer von Oz´ auf Video zu sehen.

    Nachdem er ein halbes Dutzend Anmeldeformulare bei der Schwester abgegeben hatte, und sie ihm versichert hatte, dass es heute nicht lange dauern würde, setzte er sich mit Udo in den Warteraum. Noch bevor der Ehrenamtler von der Aids-Hilfe die Gelegenheit hatte, mit einer Tasse auf sie zuzugehen, blaffte Björn ihn an: "Spar es dir, Schätzchen. Ich will keinen Kaffee!"

    "Björn", sagte Udo. "Er kann nichts dafür."

    Björn sah ihn verzweifelt an. "Ich will hier raus", sagte er leise.

    Udo nahm ihn in den Arm und schwieg. Kurz darauf wurde Björn aufgerufen und zerrte Udo mit in das Sprechzimmer.

    Nachdem Björn dem Arzt sämtliche Symptome seiner Ausfälle geschildert hatte, sah der ihn an, runzelte die Augenbrauen und erklärte ihm, dass er ohne ein Kernspint keine Diagnose stellen könne. Obwohl Björn sich das schon gedacht hatte, stieg Panik in ihm hoch. "Aber nur, wenn ich was zum Ruhigstellen bekomme", sagte er mit ängstlicher Stimme. "Ich habe das schon mal mitgemacht. In dieser Röhre zu liegen, ist der absolute Horror. Ich kriege da drin klaustrophobische Anfälle!"

    Der Rest ging dann ziemlich schnell. Noch am gleichen Tag wurde durch Zufall ein Termin zum Kernspint frei. Björn bekam kurz vorher ein Mittel gespritzt, das seine Angst etwas unterdrückte, und Udo versprach ihm, die ganze Zeit im Vorraum auf ihn zu warten. Dann ließ sich Björn in die Röhre verfrachten, und die Tortur begann. Er hielt die vorgeschriebenen fünfzehn Minuten durch, obwohl er mehrere Male kurz davor war, alles abzubrechen und letztendlich schweißgebadet und mit irrsinnigen Kopfschmerzen nach dem Ende der Untersuchung wieder zu sich kam. Schon einige Tage später war das Ergebnis da.

    Als der Arzt versuchte, Björn schonend beizubringen, wie er sterben würde, brach Udo in Tränen aus, hielt ganz fest seine Hand und verbarg sein Gesicht an Björns Schulter. Schlagartig wurde Björn klar, dass sein Mann die kommenden Monate nicht durchstehen würde. Selbst wenn er wollte - er war nicht stark genug.

    Ja, dachte Björn, auch wenn ich völlig verblödet bin, wird er mir fünfmal hintereinander dieselbe Frage beantworten, er wird mir den Löffel zum Mund führen, wenn ich selber nicht mehr essen kann. Er wird mich auch davon abhalten, in die Wohnzimmerecke zu pissen, weil ich das Klo nicht mehr finde. Aber vielleicht kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem er es nicht mehr tut, weil er es für mich tun will, sondern weil er sich dazu verpflichtet fühlt. Und dann wird seine Liebe zu mir aufhören, alles wird für uns beide nur noch eine Qual sein, und selbst die Erinnerung an unsere Beziehung wird zerstört werden. Und diesen Tag will ich nie erleben, verblödet oder nicht.



    "Das ist ein joke!", sagt Björn zu Nane. "Du hast die Karten gezinkt!"

    "Quatsch!", antwortet Nane. "Selbst wenn ich wollte, ich wüsste gar nicht, wie so etwas geht. Es ist halt Tarot! Aber es sieht so aus, als wollten dir die Karten etwas sagen!"

    Björn lacht freudlos auf. "Das ist doch Humbug! Du weißt genau, dass ich an so etwas wie Wahrsagerei und Kartenlegen nicht glaube. Dazu bin ich ein viel zu sehr rational denkender Mensch."

    "Tatsächlich?", sagt Nane mit beißender Ironie. "Und warum regen dich dann 'Die Liebenden' so auf?"

    Entnervt wirft Björn die Karten auf den Tisch und fährt mit seinen Händen durch sein Gesicht. Er kann tatsächlich nicht behaupten, dass ihn das Ziehen gerade dieser Karte unberührt lässt. Aber er weigert sich, seine Entscheidung über seinen Selbstmord von einem Tarot-Set abhängig zu machen. Nane schweigt und zündet sich eine neue Zigarette an. Björn steht auf und fängt an, im Raum hin und her zu laufen.

    Wie immer sieht es bei Nane aus, als ob die städtische Müllabfuhr eine Sondermülldeponie in ihrer Küche eröffnet hätte. Der Tisch hat ein halbes Dutzend Kaffeeränder, im Spülbecken stapelt sich das schmutzige Geschirr, Brotkrumen fliegen überall auf der Erde herum, und der Abfalleimer quillt über, genauso wie alle Achenbecher. In einer Ecke am Boden steht eine Mausefalle mit vergammeltem Käse.

    Björn denkt, in unserer Wohnung würde mir diese Unordnung nach spätestens einem Tag tierisch auf die Nerven fallen; hier bei Nane gehört das Chaos irgendwie dazu, und ich fühle mich wohl darin. Komisch.

    "Das ist nicht fair", sagt er schließlich zu Nane. "Statt mich in meinem Entschluss zu unterstützen, fällst du mir in den Rücken!" Nane grinst und schüttelt den Kopf. "Erinnerst du dich, wie unser Deal lautet? Ich verwalte die Pillen für dich und händige sie dir aus, aber erst nach einem ernsten Gespräch."

    "Ach", sagt Björn ärgerlich, "und das ernste Gespräch sieht so aus, dass du mir einen Tarot legst? Na, vielen Dank!"

    "Nun", sagt Nane ruhig und bläst ihm den Zigarettenqualm mitten ins Gesicht, "zumindest hat es ja wohl uns beiden gezeigt, dass du schon noch ein paar Zweifel hast, ansonsten hätte dich diese Karte ja nicht so umgehauen! Was du jetzt damit anfängst, ist deine Sache. Wenn du die Schlaftabletten haben willst, gebe ich sie dir natürlich."

    Björn starrt wie hypnotisiert auf den Karton, der immer noch ungeöffnet vor ihm auf dem Tisch liegt.

    "Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass du von mir eine bedingungslose Absolution erhältst, wenn du dich umbringen willst!", sagt Nane.

    "Aber du bist meine beste Freundin!" quengelt Björn. Dieses Gespräch verläuft völlig anders, als er es sich vorgestellt hat.

    "Ja", sagt Nane. "Und deshalb nehme ich mir das Recht heraus, deine Entscheidungen auch mal in Frage zu stellen."

    Als er antworten will, klingelt es. Durchdringend, laut und anhaltend, mehrmals hintereinander, bis Nane aufspringt, zur Tür läuft und fluchend auf den Summer drückt. Björn hört, wie jemand so schnell wie möglich die Treppe heraufrennt, zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend. Und dann stürmt Udo in die Wohnung hinein.

    "Wo ist er?" schreit er Nane an. "Hast du ihm etwa die gottverdammten Pillen gegeben?" Als Björn in den Flur kommt, sieht Udo ihn an und zerrt ihn in eine Umarmung, so fest, als wolle er ihn nie wieder loslassen. "Du Mistkerl! Hast du diese Scheißpillen schon geschluckt?" Er fängt an zu schluchzen. Björn schüttelt vorsichtig den Kopf. Hinter ihm fällt leise eine Tür ins Schloss. Nane hat sich diskret in ihr Wohnzimmer zurückgezogen.

    Udo schleift seinen Freund in die Küche, setzt sich auf einen Stuhl und zieht Björn auf seinen Schoß. Der Schweiß läuft ihm ins Gesicht und hinten den Nacken herunter. Anscheinend ist er die ganze Strecke gerannt.

    "Woher weißt du, dass ich hier bin?", fragt Björn.

    "Weil ich deinen Zettel auf dem Tisch gefunden habe," antwortet Udo unwirsch und deutet ihm mit einer ärgerlichen Handbewegung an, dass er nicht hier ist, um über solche Kleinigkeiten zu sprechen. Er sieht Björn mit seinen katzengrünen Augen an, und plötzlich weiß Björn nicht mehr, was er sagen soll. Nichts ist mehr richtig, und nichts ist mehr falsch. Stumm hält er Udo die Karte mit den 'Liebenden' unter die Nase.

    "Was soll das?", fragt Udo.

    "Nanes Idee", antwortet Björn lakonisch.

    "Ich will nicht, dass du ...", fängt Udo ernst an, aber Björn schüttelt den Kopf.

    "Halt einfach das Maul!", sagt er.

    Beide schweigen eine lange Zeit.

    "Weißt du noch, wie wir das erste Mal miteinander rumgemacht haben?", fragt Udo dann plötzlich.

    Björn sieht ihn überrascht an. "Blöde Frage", antwortet er. "Klar weiß ich das noch. Bei mir auf dem Küchentisch!"

    "Ich will dich genauso ficken wie damals!", knurrt Udo ihm ins Ohr und fängt an, Björns Hemd aufzuknöpfen.

    "Was? Jetzt? Hier, bei Nane?" Björn muss grinsen.

    "Ich glaube nicht, dass das ausgerechnet für Nane ein Problem ist", sagt Udo und zieht seinen Freund weiter aus.

   "Hey", sagt Björn und versucht, ihn wegzuschieben. "Ich habe noch nicht 'ja' gesagt!"

    "Das brauchst du auch nicht!", antwortet Udo. Er fegt mit einer Handbewegung den Karton mit den Schlaftabletten zur Seite und drückt Björn auf den Küchentisch. "Lass dich einfach fallen. Ich passe auf uns beide auf."

    Björn sieht in Udos leuchtende grüne Augen. Dann lässt er los.