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drachenzeit

   Die Hitze in der Stadt hält nun schon mehr als zwei Wochen an und fordert schleichend ihren Tribut von den Menschen. Die Gesichter, die um Arno und Franz herumfluten, sind verschwitzt, mürrisch und von Stress gezeichnet. Die beiden Männer flüchten in ein Café in einer kleinen Seitengasse abseits der Haupteinkaufsstraßen, dessen große Marlboro-Sonnenschirme ein wenig Schatten versprechen. Wickenranken mit Blüten in blassblauen Tönen grenzen das Lokal von der dicht befahrenen Straße ab und gaukeln einen Anschein von Intimität vor.Aber die Pflanzen sind nach der langen Hitzeperiode ziemlich welk und vertrocknet, unter das Blattgrün haben sich vorzeitig Herbsttöne geschlichen.

    Franz räuspert sich und sieht Arno an, der unruhig in seinem Milchkaffee herumrührt. Es geht Arno nicht gut. Er sieht müde aus, als hätte er in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen.

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Jan

Drachenzeit

Ku-Klux-Klan

Der Mann im Mond

Tarot

Die rote Flut

   Furchen haben sich in seinem Gesicht eingegraben und lassen ihn älter aussehen, als er ist. Er hat sich die Haare wachsen lassen, aber noch nicht begriffen, dass längere Haare mehr gepflegt werden müssen als der Stoppelhaarschnitt, den er bisher bevorzugt hat. In seinem dunklen Schnäuzer machen sich die ersten Anzeichen von Grau bemerkbar. Er wirkt fahrig und nervös.

       "Tatsache ist", sagt Arno und schaut zu Franz hoch, "Tatsache ist, dass mein Vater auch schwul ist. Von daher war ich schon immer ein Verfechter der These, dass Homosexualität erblich bedingt ist." Er weiß selbst nicht so ganz genau, wieso dieser Gedanke auf einmal in seinem Kopf herumspukt. Normalerweise vermeidet er die Erinnerung an seinen Vater.

    Franz zieht die Augenbrauen hoch. Die Wendung, die das Gespräch plötzlich genommen hat, überrascht ihn. Gerade noch hat Arno ihm von einer neu eröffneten schwulen Kneipe erzählt - ein Thema, das Franz nicht sonderlich interessiert hat, da er nur sehr selten ausgeht - und nun, völlig zusammenhanglos, dieser Themenwechsel. "Woher weißt du das?", fragt er vorsichtig. Er kennt Arno mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass man seine Worte behutsam formulieren muss, wenn man nicht einen Gefühlsausbruch heraufbeschwören will.
Franz seufzt innerlich. Schwule Männer wird er wohl nie verstehen. Schon gar nicht Arno. Auch wenn sie sich in den letzten Monaten etwas näher gekommen sind und sich häufiger getroffen haben, so wird ihm dieser Mann wohl immer irgendwie fremd bleiben. Und eigentlich ist es ihm auch egal. Warum sollte ausgerechnet er sich mit Arnos Gefühlsleben auseinandersetzen? Jeder würde dafür Verständnis haben, wenn er einfach aufstünde und das Café verließe. Jeder.

    Gewusst voneinander haben Arno und Franz schon lange. Beide waren nacheinander mit demselben Mann befreundet gewesen, Franz fünf Jahre lang, Arno ein paar Monate. Als Sebastian im Sterben lag, hatte er versucht, eine Versöhnung zwischen seinen beiden Ex-Männern zu vermitteln, was zumindest bis zu einem gewissen Grad auch geklappt hatte. Arno und Franz hatten ihre Feindseligkeiten zusammen mit Sebastian begraben und waren sich, so gut es ging, gegenseitig eine Stütze gewesen. In letzter Zeit allerdings, so empfindet es Franz zumindest, hat sich Arno wieder vermehrt zurückgezogen. Er hat wiederholt Verabredungen abgesagt oder ist, wenn er sie doch einhält, zurückgezogen oder abweisend, wirkt unkonzentriert und mit sich selbst beschäftigt. Zuerst hat Franz es darauf zurückgeführt, dass Arno vielleicht noch immer unter Sebastians Tod leidet, dann hat er angenommen, dass ihre Charaktere für eine wirkliche Freundschaft vielleicht doch zu verschieden sind, und jetzt weiß er nicht mehr, was er denken soll. Eigentlich geht ihm Arno nur auf die Nerven.

    Arno schneidet eine Grimasse, beugt sich über seinen Cappuccino und trinkt den Schaum von seinem Kaffee ab. Der Schaum bildet einen weißen Rand auf seinem Schnäuzer.

    "Er hat es mir gesagt", sagt er. "Als ich ungefähr acht oder zehn war, ich weiß nicht mehr so genau. Er hatte damals schon einen Freund, mit dem er zusammenlebte. Einen Amerikaner, der bei der deutschen Tochtergesellschaft eines amerikanischen Architekturbüros hier in Deutschland arbeitete. Geiler Typ."

    "Wirklich?", fragt Franz höflich.

    Das Wetter ist ideal für das, was Arno vorhat. Draußen scheint die Sonne und es ist nur mäßig bewölkt. Es ist nicht zu kalt und nicht zu warm, so dass seine Mutter ihn nicht zwingen wird, seinen ungeliebten, dunkelblauen Anorak mit der muffigen Innenfütterung anzuziehen, in dem er immer aussieht wie der blöde Ameisenbär Elise aus der Zeichentrickserie mit dem rosaroten Panter. Aber das Beste ist, dass im Freien ein leichter Wind aufkommt, im Grunde schon den ganzen Vormittag geblasen hatte, aber jetzt genau die richtige Stärke zu haben scheint.
Arno stellt sich einen Stuhl vor das Fenster, klettert auf das Fensterbrett und steckt prüfend einen mit Spucke befeuchteten Zeigefinger aus dem geöffneten Fenster, genauso, wie er es von seinem Vater gelernt hat. Ja, der Wind hatte nicht nachgelassen, aber er war zum Glück auch nicht zu stark.

    Seit diesem Herbst war Arno ein Experte im Drachenfliegen lassen. In den letzten sechs Wochen war er fünfmal im Grüngürtel vor der Stadt gewesen und hatte Drachensteigen geübt, eigentlich fast jedes Mal, wenn sein Vater ihn für ihren samstäglichen Nachmittag zu zweit bei seiner Mutter abholte. Nur einmal war das Wetter so schlecht gewesen, dass sie ins Kino gegangen waren, ins `Dschungelbuch´. Arno fand den Film ganz okay, aber er hatte ihn schon dreimal gesehen und sich dann doch ziemlich gelangweilt, vor allen Dingen weil er sich gar nicht mehr vor der Schlange Kah fürchtete, und eigentlich war der Film ja doch Kinderkram. Aber seinem Vater war auch nichts Besseres eingefallen, und Arno hatte sich nicht getraut zu fragen, ob sein Vater ihm stattdessen vielleicht endlich seine neue Wohnung zeigen könnte, denn jedes Mal, wenn er bisher gefragt hatte, hatte sein Vater das Thema gewechselt.

    Sowieso fiel Arnos Vater nicht häufig irgendetwas Interessantes zum unternehmen ein, fand Arno, auch die Idee mit dem Drachenfliegen war eigentlich von Arnos Mutter gekommen, obwohl seine Eltern ihm den Drachen im Juli zu seinem Geburtstag zusammen geschenkt hatten.

    Der Drachen liegt oben auf Arnos Schrank. Er ist riesig groß, fast so groß wie Arno selber, der Kopf rautenförmig, mit dicken, aber sehr leichten Plastikverstrebungen, um ihm in der Luft den nötigen Halt zu geben, während der restliche Körper ähnlich wie bei einem richtigen Drachen länglich und wurmartig in einem langen Schweif endet. Der Drachen hat auf einem dunkelblauen Hintergrund ein großes, dunkelgrünes, fratzenartiges, mit metallisch glänzenden Schuppen besetztes Gesicht, dazu grimmig glitzernde, tiefschwarze Augen und ein breites, halb geöffnetes, feurig-rotes Maul mit großen aufgerichteten - aber natürlich nur aufgemalten - Zähnen, ein bisschen gruselig. Sein Schweif ist ebenfalls mit metallisch aussehenden Schuppen bemalt und genau zwei Meter lang. Arno hat ihn mit dem Zollstock aus der Rumpelkammer ausgemessen.

    Es wäre ihm zwar lieber gewesen, seine Eltern hätten sich auf seinem Geburtstag ihm zuliebe wieder vertragen, aber dass das nur ein frommer Wunsch war, weiß er selber, schließlich haben sie sich erst vor ein paar Monaten scheiden lassen. Und geschiedene Eltern feiern Geburtstage nicht zusammen wie normale Eltern, das hat ihm schon Torsten aus seiner Klasse erklärt; dessen Eltern haben sich vor vier Jahren scheiden lassen. Überhaupt hat Torsten Arno in den letzten Monaten ziemlich viel über Heiraten, Trennung und solche Sachen wie Liebe erzählt, und Arno hat jedes Mal versucht, konzentriert zuzuhören, in der Hoffnung, endlich zu verstehen, warum seine Eltern sich nicht mehr verstehen. Aber all die Dinge, die Torsten ihm versucht zu erklären, wenn sie sich nachmittags auf dem kleinen abgelegenen Spielplatz hinter der alten Kirche treffen, um heimlich die Zigaretten zu paffen, die Torsten aus der Schachtel seiner Mutter geklaut hat, ergeben in Arnos Kopf keinen Sinn. Seine Eltern haben sich vor der Scheidung eben nicht ständig gestritten, so wie Torstens Eltern, so dass man vor lauter Schreien Raumschiff Enterprise und Bonanza im Fernsehen nicht verstehen konnte, und sein Vater ist auch nicht nächtelang nicht nach Hause gekommen wie Torstens Vater. Das einzige, was Arno aufgefallen war, bevor seine Eltern ihm eines Tages vorsichtig beibrachten, dass sie nicht länger miteinander leben wollten, war, dass sein Vater und seine Mutter nicht mehr zusammen im Schlafzimmer schliefen. Aber Arno hatte angenommen, dass sein Vater deshalb auf der Couch im Hobbyraum übernachtete, weil er abends noch so lange am Zeichenbrett saß und seine Mutter dann nicht mehr stören wollte. Und sie hatten sich schon lange Zeit morgens in der Küche nicht mehr geküsst, was sie früher immer gemacht hatten. Aber das hatte Arno nicht gestört, und er hatte deshalb auch nicht weiter darüber nachgedacht, weil er Küssen eigentlich ziemlich eklig fand. Jedesmal, wenn seine Mutter oder sein Vater ihm einen Kuss geben wollen, sträubt er sich mit Händen und Füßen.

    Was Arno bei diesen geheimen, verschwörerischen Treffen mit Torsten viel interessanter fand, war, wenn sie auf Sex und solche Sachen zu sprechen kamen. Und aus irgendeinem Grund, den er selber nicht so ganz verstand, tat Arno alles dafür, das Gespräch jedes Mal in diese Richtung zu lenken. Zwei oder dreimal hatten sie sich sogar ihre Pimmel gezeigt, und verglichen, wer den größeren hatte. Im Gegensatz zu Torsten hat Arno schon ein wenig Schambehaarung, was ihn in Torstens Achtung erheblich steigen ließ, und einmal hat Torsten, als ihn Arno damit geärgert hat, ein ziemlicher Feigling zu sein, sogar Arnos Pimmel in die Hand genommen. Torstens Hand war so kalt gewesen, dass bei Arno sofort alles zusammengeschrumpelt ist, obwohl er vorher eine Latte gehabt hatte.

    Arno seufzt und steigt von seinem Ausblick auf dem Fensterbrett herunter. Dann schiebt er den Stuhl vor seinen Kleiderschrank und klettert erneut auf die Sitzfläche, diesmal, um seinen Drachen herunterzuholen. Letztendlich, überlegt er, hat er sich auch über den Drachen gefreut. Immerhin hat niemand aus seiner Klasse einen größeren, und Torsten war sehr neidisch gewesen. Es sah geil aus, als er und sein Vater den Drachen zum ersten Mal steigen ließen, am Wochenende nach seinem Geburtstag. Die Sonne hatte genau auf den dunkelgrünen, im Wind flatternden Körper geschienen, und durch die große Entfernung zum Drachen am Himmel und die Bewegungen, die der Drachen im Wind vollführte, sah es aus, als würde er tatsächlich jeden Moment anfangen, Feuer zu speien. Wie in einem der Fantasy-Filme, die Arno immer ganz gebannt im Fernsehen sah, in denen bösartige, immens gefährliche Drachen aus ihren Höhlen herausgekrochen kommen und sich mit tapferen, schwertgezückten Rittern Zweikämpfe liefern. Aber dann waren es doch nur die Sonnenstrahlen gewesen, die sich auf den silbrig glänzenden Schuppen gebrochen hatten.
In diesem Moment hört Arno die quietschenden Reifen des Autos seines Vaters vor dem Haus. Schnell greift er nach den Drachen, springt vom Stuhl, läuft zu seinem Bett und gibt Toby, seinem alten Terrier, der dort gerade seinen Mittagsschlaf hält, einen leichten Klaps.

    "Los, komm schon, Toby!" ruft er. Der Hund rappelt sich nicht sehr enthusiastisch auf und folgt Arno langsam, der sich schon im Spurt auf der Treppe befindet, um seinen Vater, der gerade durch die Haustür ins Haus hereinkommt, mit einer zögernden Umarmung zu begrüßen. Wie alle Heranwachsenden in seinem Alter hat Arno Probleme damit zu entscheiden, inwieweit er noch körperliche Nähe zu seinen Eltern haben will und wie er trotzdem seine Würde bewahren kann. Arno hat sich zur Zeit insoweit festgelegt, als er seine Mutter nicht mehr umarmt - sie sieht er schließlich jeden Tag - bei seinem Vater gestattet er sich jedoch hin und wieder eine Ausnahme.
Sein Vater schließt die Haustür hinter sich - er hat noch immer einen Schlüssel - und steht einen Moment unschlüssig im Flur. Dann sieht er seinen freudestrahlenden Sohn die Treppe herunterrennen und lächelt.
"Hallo, Sohnemann", sagt er und umarmt Arno, "fertig zum Drachensteigen lassen?"
Arno, der seinen Kopf an der Schulter seines Vaters vergraben hat und unbewusst den Geruch von Schweiß gierig einsaugt, nickt. Er merkt noch nicht einmal, dass die Mundwinkel seiner Mutter ganz verkniffen sind, als sie seinen Vater im Flur sieht.

    "Gut", sagt sein Vater nervös, "dann lass uns gehen."


    "Und was ist dann passiert?" fragt Franz.

    "Oh", sagt Arno geistesabwesend, "mein Vater ist dann mit seinem neuen Lover in die Staaten gegangen. Wegen ´nem Job oder so. Wir haben keinen Kontakt mehr ..." Arnos Augen bleiben am Himmel hängen, der eine violette Frabe angenommen hat.

    Über ihnen braut sich plötzlich ein Gewitter zusammen. Aus allen Richtungen treibt der Wind Wolken herbei, die sich in Minutenschnelle verdunkeln und damit drohen, ihre Regenladung genau über ihren Köpfen zu vergießen.
Franz sagt unnötigerweise: "Ich glaube, es gibt gleich ein Gewitter. Wir sollten vielleicht nach innen gehen, sonst werden wir völlig durchnässt." Er sieht Arno an, der ins Leere starrt. "Arno?"

    Arno schreckt hoch und blickt mit glasigen Augen in Franz´ Richtung. "Es ist wie damals..." murmelt er. Einige Augenblicke lang hat er Orientierungsprobleme. Er hätte schwören können -

    "Was ist wie damals?" fragt Franz verärgert. Fast hat er den Eindruck, Arno habe vergessen, dass er nicht alleine am Tisch sitzt. "Und was hat die rührende Geschichte von deinem Drachen mit der Homosexualität deines Vaters zu tun?" Ein böiger Wind springt plötzlich auf sie zu und lässt Servietten, Tischdecken und die Asche aus den übervollen Aschenbechern auf den Tischen durch die Luft wirbeln. Zwei Kellner stürzen aus dem Innenraum des Cafés und bemühen sich, die aufgespannten Sonnenschirme vor dem Wind in Sicherheit zu bringen.

    Franz steht auf, in der Erwartung, dass Arno mit ihm zusammen den Tisch verlässt, um ihren Kaffee drinnen im Café weiterzutrinken. Er hat keine Lust, nassgeregnet zu werden. Aber Arno bleibt sitzen. Er registriert noch nicht einmal, dass Franz aufgestanden ist.

    Es kommt Arno so vor, als hätten sie noch nicht einmal richtig angefangen. Der Drache flattert hoch über ihnen im Wind und vollführt tollkühne Bewegungen. Toby springt aufgeregt zwischen ihren Füßen herum. Gerade erst hat Arnos Vater den Drachen endlich in der Luft stabilisiert und die Schnur aus festem Nylon in die Hände seines Sohnes übergeben. Arno ist wie immer in diesem Augenblick ganz schrecklich nervös, nie seiner Fähigkeit sicher, den Drachen so wie sein Vater in der Luft halten zu können. Jedes Mal, wenn der Drache beginnt, eine Abwärtsbewegung in Richtung Boden zu vollführen, zieht er hektisch an der Schnur und sieht sich hilfesuchend nach seinem Vater um, der ihm dann meist geduldig erklärt, wie er den Drachen wieder auf eine höhere Bahn lenken kann, oder ihm notfalls helfend die Hand führt. In diesen Momenten starrt Arno seinen Vater bewundernd an und bedauert zutiefst, dass er nicht mehr zu Hause wohnt. Er wirkt so stark, so unabhängig, so als ob er immer genau wisse, was zu tun sei. Arno wünscht sich, wenigstens ein bisschen so zu sein wie sein Vater.

    "Woah!", sagt sein Vater. "Sieh dir das an, Arno! So hoch in die Luft haben wir deinen Drachen noch nie bekommen!"

    Arno legt seinen Kopf in den Nacken und blinzelt in den blauen Himmel. Da oben, so hoch, dass er nicht größer als Arnos Finger erscheint, fliegt ein dunkler Punkt, unruhig, aber stetig, gerade noch als kleines Viereck zu erkennen. Arno ist unglaublich stolz. "Toll!", bringt er heraus. "Wahnsinn!"


    "Arno!", sagt Franz energisch. "Was ist bloß los mit dir? Willst du vielleicht während des Gewitters hier draußen sitzen bleiben?" Er schüttelt Arno an der Schulter. "Lass uns endlich reingehen!"
Arno schreckt hoch und sieht Franz verwirrt an. "Jetzt hör auf, mich anzumachen!", blafft er ihn an. "Verschwinde einfach!", murmelt er dann und starrt erneut ins Leere.

    In diesem Moment beginnt sich der gesamte Himmel über ihnen pechschwarz zu färben, und eine plötzliche völlige Windstille breitet sich aus.

    "Weißt du was, Arno? Ich glaube, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank! Wenn du hier gerne sitzen möchtest, um bis auf die Haut nass zu werden, und dich zum Gespött aller Leute machen möchtest, dann bitte schön! Ich verschwinde jetzt!", sagt Franz wütend.
Er wirft etwas Kleingeld auf den Tisch, um seinen Kaffee zu bezahlen, und nimmt die schmale Aktentasche vom Nebenplatz auf. Dann beugt er sich ein letztes Mal zu Arno herunter, der noch immer wie versteinert auf seinem Stuhl sitzt und nicht einmal zu bemerken scheint, dass die ersten Regentropfen auf ihn herabfallen und sein T-Shirt durchnässen. "Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du dich ein bisschen merkwürdig benimmst, Arno? Ich habe den Eindruck, dass du ziemlich neben der Spur bist! Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, ob du nicht eine Therapie brauchst!" Dann dreht sich Franz auf dem Absatz um und verschwindet in der vor dem aufziehenden Sturm flüchtenden Menschenmenge. Arno sieht ihm unbewegt nach. Seine Finger trommeln nervös auf der Tischplatte.

    Wie ein von einem Luftgewehr tödlich getroffener Vogel stürzt Arnos Drachen Richtung Erde; der plötzlich ausbleibende Wind verhindert jede Chance, ihn langsam und sachte an der Schnur wieder einzuholen.
Fluchend reißt Arnos Vater Arno die Schnur aus der Hand und versucht, durch schnelles Auswickeln der Schnur und hastige Gegenbewegungen den Absturz zu verhindern, aber ohne Erfolg. Zusammen mit einem ersten grellen Blitz, Donnergrollen und kurz darauf niederprasselndem Regen prallt der Drache mit der Schnauze zuerst auf den Boden. Gefolgt von seinem kläffenden Hund, rennt Arno entsetzt zu der Stelle, an der der zerstörte Drache liegt, und hofft, dass nichts allzu Schlimmes passiert ist.
Was er vorfindet, ist ein Häufchen zerfetztes Plastik, auf dem noch einige Schuppen matt silbrig glänzen, und mehrere zerborstene Plastikstangen, die sich in den schmutzigen, unter dem heftig einsetzenden Regen schnell aufweichenden Boden gebohrt haben. Toby beschnüffelt neugierig die Überreste und sieht Arno erwartungsvoll an. Von der Majestät des fliegenden Drachens und der furchteinflößenden Fratze des Gesichts ist nicht mehr als ein Haufen Müll übrig geblieben. Arno steigen die Tränen in die Augen.
"Oh nein!", stößt er schluchzend hervor und nimmt das Gewirr aus zerfetztem Plastik und Halterungsstangen schützend an sich. "Mein Drachen! Mein schöner Drachen! Du kannst ihn wieder reparieren, ja?", fragt er hoffnungsvoll, zu seinem Vater gewandt.
"Los, komm jetzt, Arno!", ruft ihm sein Vater ins Ohr, ohne auf den flehenden Blick in den Augen seines Sohnes einzugehen. Um sie herum hat der Wind wieder aufgefrischt und entwickelt sich zu einem Sturm, der Regen schlägt auf sie ein und durchnässt beide in Sekundenschnelle. "Wir müssen zum Auto!" Arnos Vater packt den schluchzenden Arno und den zerstörten Drachen unter seinen Arm und rennt mit ihm zu seinem Auto, das er in einiger Entfernung geparkt hat.


    Wir sind dann nach Hause gefahren, denkt Arno, oder? Ja, wir sind nach Hause gefahren, zu ihm. Das einzige Mal. Arno sitzt als einziger Gast des Cafés im Freien. Der Regen hüllt ihn von allen Seiten ein und läuft ihm unter dem Hemdkragen in den Nacken und den Rücken herunter.
Ich bin genauso nass wie damals, denkt er.

    Die Aussicht, endlich und unverhofft die Wohnung seines Vaters kennen zu lernen, lenkt Arno in Sekundenschnelle vom Verlust seines geliebten Drachens ab. Er überschüttet seinen Vater auf dem kurzen Weg zu dessen Wohnung mit Dutzenden von Fragen, während sein Vater immer einsilbiger und, so scheint es Arno, immer nervöser wird, je näher sie ihrem Ziel kommen. Als sie dann schließlich vor der Wohnungstür stehen, sieht sein Vater auf den tropfnassen Arno herab und seufzt.

    "Es hilft wohl nichts", sagt er unsicher. "Wir können dich ja nicht in den nassen Klamotten herumlaufen lassen."

    "Toby ist auch ganz nass!" sagt Arno und deutet auf den sich schüttelnden Hund. Dann holt er ein feuchtes Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzt sich die Nase. Endlich schließt sein Vater die Wohnungstür auf. Arno rennt durch den hell erleuchteten Flur, ins Wohnzimmer - und stößt vor dem Sofa mit einem anderen Mann zusammen.

    Hinter ihm sagt die Stimme seines Vaters: "Arno, ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Nigel."
Arno starrt den Mann, der vor ihm steht, wortlos an. Er ist groß, größer als sein Vater, und hat einen kurzen Vollbart, den Arno ehrfürchtig betrachtet. Der Mann starrt genauso überrascht wie Arno zurück und blickt sich hilfesuchend nach Arnos Vater um.

    "There was no other way", sagt sein Vater. "The storm took us by surprise."

    Nigel nickt und geht in die Hocke, damit sein Gesicht auf einer Höhe mit dem von Arno ist. Seine großen grauen Augen sehen den Sohn seines Freundes lächelnd, aber auch unsicher an. "Hi, little boy", sagt er in einem tiefen Bass, "ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen. Dein Vater hat mir schon viele Sachen über dich erzählt."

    Während sein Vater ihm im Badezimmer die durchnässten Sachen auszieht und ihn mit einem Handtuch den Körper trockenreibt, schweigt Arno und versucht das, was gerade geschehen ist, irgendwie einzuordnen. Sein Vater bleibt ebenso stumm, scheint völlig damit beschäftigt zu sein, Arno wieder in einen trockenen Zustand zu versetzen. Aber Arno bemerkt, wie er ab und zu verstohlen zu seinem Sohn herüberblickt. Als Arno endlich, in einen viel zu großen Bademantel seines Vaters gehüllt, aufhört, mit den Zähnen zu klappern, und auch seine Haare wieder trockengefönt sind, nimmt ihn sein Vater in den Arm und setzt ihn auf den Toilettendeckel. Arno schweigt weiterhin und schaut seinem Vater ins Gesicht.

    Sein Vater seufzt.

    "Ich hatte es mir irgendwie anders vorgestellt", sagt er dann, "Aber einen richtigen Zeitpunkt dafür gibt es wahrscheinlich gar nicht." Er schweigt wieder und setzt dann erneut an. "Hast du irgendeine Ahnung davon, was Nigel für mich bedeutet?", fragt er dann.

    Arno nickt vorsichtig. "Ja, Vati, ich glaube schon." Er schluckt. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass sein Vater ihn wie einen Erwachsenen behandelt, mit ihm spricht, als sei er kein Kind mehr. Irgendwie muss er beweisen, dass er der Situation gewachsen ist, obwohl seine Lippen zittern und ihm zum Heulen zumute ist. Aber er kann nicht. Da ist dieser dicke Kloß in seinem Hals und die plötzliche, intuitive Gewissheit, dass von nun an alles anders sein wird. Sein Vater und seine Mutter werden sich nie wieder vertragen, sie werden nie wieder eine Familie sein. Das hat er in dem kurzen Blick erkennen können, den Nigel und sein Vater sich zugeworfen haben, als er zur Tür hineingerannt war. Ein Gefühl von ohnmächtiger Wut gegen diesen fremden Mann und seinen Vater steigt in ihm hoch und sucht sich einen Weg nach draußen.

    "Du und Mama ...", beginnt er, räuspert sich und fängt noch einmal an. "Du bist weggegangen, weil du Nigel lieber magst als uns. Du hast alles kaputtgemacht!", platzt es dann auf einmal aus ihm heraus.

    Sein Vater starrt ihn mit offenem Mund an und will etwas erwidern, aber Arno rennt, so schnell er kann, zur Tür hinaus, und Toby läuft kläffend hinter ihm her. Erst als er die Wohnungstür hinter sich zuschlagen will, bemerkt er, dass seine Sachen noch auf der Badezimmerheizung trocknen. Mit gesenktem Kopf läuft er zurück in die Wohnung. Nigel ist nirgendwo mehr zu sehen. Arnos Vater will mit ihm reden, aber Arno hält sich die Ohren zu. Er will nichts hören.

    Später, als seine Kleidung wieder trocken ist, zieht er sich wortlos an, nimmt seinen demolierten Drachen und verschwindet aus dem Leben seines Vaters.


    Der Regen hat aufgehört. Arno ist bis auf die Haut durchnässt. Er sitzt noch immer auf seinem Stuhl in dem jetzt menschenleeren Café. Von drinnen starren die Kellner entgeistert auf den Mann, der wie ein Hund den Kopf schüttelt, um die Wassertropfen aus seinem Gesicht zu vertreiben.
Arno steht auf, kramt aus seiner Hosentasche ein paar Münzen und legt sie auf den Tisch. Dann geht er langsam in Richtung Einkaufsstraße. Auf dem Weg dahin erstarren seine Gesichtszüge wieder zu der müden Maske, die er vorher getragen hat.

    Arno trottet mit gesenktem Kopf über die schmutzige Landstraße nach Hause. Seinen Schulranzen zieht er hinter sich her, so dass ein kleiner wackeliger Strich hinter ihm auf der Straße den Weg markiert, den er bisher zurückgelegt hat. Arnos Lippe ist geschwollen, rechts an der Unterlippe hat sich eine Kruste gebildet, dort, wo ihn Kai mit der Faust getroffen hat.

    Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass sich Arno geprügelt hat. Alles ging so schnell, dass er überhaupt keine Zeit gehabt hat nachzudenken, sondern nur instinktiv gehandelt hat.

    Arno schnieft. Den Rotz, der ihm aus der Nase läuft und Spuren in seinem schmutzigen, staubigen Gesicht hinterlässt, wischt er an seinem Jackenärmel ab. Er bleibt stehen und schaut an sich herunter. So ein Mist! Seine nagelneue Jeans ist unten an den Knien zerrissen und völlig verdreckt, und an den Ellbogen seiner Jacke kann man ebenfalls Spuren der Prügelei entdecken. Außerdem tut sein linkes Knie beim Laufen weh, dort, wo er es sich aufgeschrammt hat, als er sich zusammen mit Kai auf dem Boden gewälzt hat. Wahrscheinlich würde seine Mutter die Wunde wieder mit Jod behandeln, um einer Infektion vorzubeugen. Bei dem Gedanken an die Schmerzen, die er dabei wieder würde aushalten müssen, verzieht Arno das Gesicht. Na ja, wenigstens würde Kai genauso leiden müssen. Er, Arno, würde für ein paar Tage mit einer dicken Lippe herumlaufen, aber Kai würde die nächste Zeit mit einem blauen Auge in die Schule kommen und sich ebenfalls dem Spott der anderen aussetzen müssen. Geschieht ihm ganz recht! Blödes Arschloch! Und er hat gedacht, Kai sei einer seiner Freunde.

    Arno kickt einen Stein, der in der Straßenmitte liegt, mit seinem rechten Fuß zur Seite, und beobachtet, wie er die Böschung hinunterpoltert.

    Sie lauerten ihm nach der Schule am Zaun des Schulhofs auf. Kai, Frank und Jochen. Schon als Arno auf sie zuging, wußte er, dass sie auf ihn warteten. Kais Gesicht umspielte ein höhnisches Grinsen, als er anfing.
"Na Arno, holt dich dein Papi morgen wieder ab? Lasst ihr wieder Drachen steigen?" fragte er scheinheilig und sprach das Wort `Papi´ so komisch aus.

    "Nein", murmelte Arno mit gesenktem Kopf und dachte an diesen anderen Mann, der mit seinem Vater in der neuen Wohnung lebte. "Der Drachen ist kaputt gegangen."

    "Weißt du, was ich gehört habe?" sagte Kai und stieß dabei Frank verschwörerisch mit dem Ellbogen an. "Dein Vater ist ein Schwanzlutscher!"

    "Ist er nicht!" gab Arno wütend zurück.

    "Weißt du das etwa nicht?" Kai fing an zu kichern. "Aber du verstehst dich doch so gut mit deinem Vater? Ich denke, ihr geht fast jeden Samstag in den Grüngürtel zum Drachensteigen!" Kai schwieg für einen Moment und sah Arno hämisch an. "Ich glaube, du weißt es wirklich nicht. Oder du willst es nicht sagen, weil du dich schämst." Er drehte sich zu Frank und Jochen um. "Sollen wir es ihm sagen?" Kai schien seine Rolle richtig zu geniessen. Seine beiden Freunde grinsten verlegen und nickten mit dem Kopf. "Weißt du, warum sich deine Eltern haben scheiden lassen? Weißt du, warum deine Mutter deinen Vater nicht mehr haben wollte?"
Arno schüttelte wie gelähmt den Kopf.

    "Weil dein Vater eine schwule Sau ist!", platzte Kai heraus.

    "Das ist nicht wahr! Du lügst!" antwortete Arno mit bebender Stimme.

    "Ich lüge nicht!", sagte Kai hart. "Franks Mutter hat meine Mutter im Supermarkt getroffen und es ihr erzählt! Deine Eltern haben sich scheiden lassen, weil dein Vater seinen Pimmel lieber anderen Männern in den Arsch steckt!"

    "Du Arschloch! Das ist nicht wahr!", schrie Arno und stürzte sich auf Kai. Frank und Jochen wichen unwillkürlich zurück und sahen sich aus sicherer Entfernung den beginnenden Kampf an. Arno riß Kai zu Boden und zerrte ihm an den Haaren. "Du lügst! Deine Mutter ist eine blöde Tratsche!"

    "Ich lüge gar nicht!", keuchte Kai. "Dein Vater treibt es mit Männern!" Dann holte er mit seiner freien rechten Hand aus und schlug Arno gegen die Unterlippe, so dass Arno einen Moment später den warmen süßlichen Geschmack seines eigenen Blutes im Mund hatte. Das machte ihn erst recht wütend. Er schrie auf und schlug Kai mit voller Wucht auf das Auge und es tat ihm gut, als Kai vor Schmerzen aufheulte, die Hände vor das Gesicht hielt und damit den Kampf verloren gab. Aber Arno nahm darauf keine Rücksicht mehr. Plötzlich nahm er eine Kälte in sich wahr, eine kalte weiße Wut, wie er sie noch nie vorher gespürt hatte.

    "Nimm es zurück!", zischte Arno und holte mit der Faust erneut aus, um wieder und wieder zuzuschlagen. "Mein Vater ist nicht schwul! Nimm das zurück!" Kai wand sich unter den auf ihn einprasselnden Schlägen hin und her, seine Nase begann zu bluten und er zuckte hilflos mit Armen und Beinen. Alles hätte Arno in diesem Moment dafür getan, um Kai für immer den Mund stopfen zu können. Alles hätte er dafür getan, wenn sein Vater ihn nicht im Stich gelassen hätte. Dann wurde er, immer noch um sich schlagend, von Frank und Jochen weggezerrt.
"Hör auf! Arno, lass ihn in Ruhe!" rief Jochen. "Du schlägst ihn ja tot!"


    Arno läuft durch die Wasserpfützen, die das Gewitter auf den Bürgersteigen hinterlassen hat. Manche der Pfützen haben einen bunten, regenbogenfarbigen Ölfilm, und Arno kann sehen, wie sich sein Gesicht in den Überresten des Sturms widerspiegelt. Zu Hause in seiner Wohnung hat er alle Spiegel an die Wand gedreht. Jetzt aber sieht er näher hin und betrachtet zögernd sein Spiegelbild. Plötzlich fährt er erschrocken zurück. Für einen Moment, einen flüchtigen Augenblick, hat er das Gesicht seines Vaters gesehen, das sich wie ein ungebetener Gast in seinen eigenen Gesichtszügen eingenistet hat. Arno stolpert ein paar Schritte nach hinten. Ihm ist kalt, und er zittert, als die Feuchtigkeit seiner Kleidung seine Haut durchdringt. Jemand rempelt ihn an und flucht im Vorbeigehen. Arno atmet tief durch und kramt in der Hosentasche nach einer Zigarette, um seine Nerven zu beruhigen.

    "Er hat sich aus dem Staub gemacht!", hatte seine Mutter mit einem selbstzufriedenen Lächeln zu Arno gesagt. "Einfach auf und davon! Was für ein Schlappschwanz!"

    Es ist nicht so, dass er seiner Mutter nicht glaubt, aber er muss es mit eigenen Augen sehen. Nein, natürlich glaubt er seiner Mutter nicht! So etwas würde sein Vater nicht tun! Nicht das! Deshalb hat er ein bisschen gelogen und erzählt, er würde den Nachmittag bei seinem besten Freund verbringen, um mit ihm Mathe zu üben.
Aber anstatt mit Michael nach Hause zu gehen, läuft Arno nach der Schule quer durch die Stadt, vorbei am Rathaus und den großen Bierbrauereien, die nach Hopfen riechen, quetscht sich zwischen einer Gruppe japanischer Touristen durch, die ihre Köpfe in den Nacken gelegt haben, um die Spitze des Doms besser sehen zu können. Sein Schulranzen schaukelt auf seinem Rücken.

    Er hat ein wenig Schwierigkeiten, die Straße wiederzufinden, aber schließlich kann er das große rote Haus in einiger Entfernung sehen und beginnt zu rennen. Atemlos bleibt er vor der Haustür stehen und beginnt, die Namensschilder zu lesen. Sein Finger fährt suchend nach oben und bleibt schließlich am obersten Klingelknopf hängen. Die Namen seines Vaters und von Nigel sind entfernt worden, das Namensschild ist leer. Ungläubig leckt sich Arno über die Lippen. Ob er sich im Haus vertan hat?
Die Eingangstür geht auf, und eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau kommt nach draußen. Arno quetscht sich an ihr vorbei und fährt mit dem Fahrstuhl in den obersten Stock. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

    Die Wohnung steht offen, und Arno schöpft wieder Hoffnung. Vorsichtig betritt er den Flur und sieht sich um. Alle Räume sind leer. Die Kommode in der Diele ist nicht mehr da, das karierte Sofa und der Fernseher im Wohnzimmer sind verschwunden, und die Wände sind kahl. Nicht ein einziges Bild ist mehr zu sehen, und selbst die Teppiche sind herausgerissen worden. Aber dann hört Arno Stimmen aus dem Schlafzimmer nach vorne dringen. Gedämpfte Stimmen, die sich in einem sachlichen, geschäftsmäßigen Tonfall unterhalten. Ohne zu überlegen, rennt Arno durch die ausgeräumte Wohnung und reißt die Schlafzimmertür auf.

    "Papa?", ruft er, noch bevor er das Schlafzimmer richtig betreten hat.

    Die erstaunten Blicke der Maklerin und eines älteren Ehepaares mustern ihn überrascht.

    "Wie bist du hier hereingekommen?", fragt die Maklerin.

    "Wen suchst du denn, mein Junge?", fragt die ältere Frau. Ein paar graue Strähnen fallen ihr ins Gesicht, und sie hat kirschrote Lippen.

    Arno schüttelt den Kopf und rennt wortlos wieder aus der Wohnung. Er rennt eine lange, lange Zeit und hört erst wieder auf, als seine Füße ihn nicht mehr weiter tragen wollen.

    Als er das Törchen zum Vorgarten aufmacht, wirft seine Mutter gerade den zerbrochenen Drachen, den er in seinem Zimmer aufbewahrt hat, in die Mülltonne vor dem Haus.

    "Hier", sagt sie verärgert, "musst du deinen Müll immer auf dem Boden herumfliegen lassen?"

    Arno schüttelt den Kopf. Nachdem seine Mutter wieder im Haus verschwunden ist, tritt er wütend gegen die scheppernde Tonne.


    Als Arno am frühen Nachmittag nach Hause kommt, liegt der Brief mit der amerikanischen Briefmarke und dem verschmierten Poststempel noch wie vor zwei Tagen auf seinem Schreibtisch. Wie die wenigen anderen Briefe, die Arno über die Jahre erhalten und nie beantwortet hat, wurde auch dieser Brief in Austin, Texas, aufgegeben.
Zögernd setzt sich Arno an seinen Schreibtisch und zögernd, wie vor zwei Tagen, schlägt er das Briefpapier auf, fährt mit dem Handrücken darüber, um die Knicke zu glätten. Noch einmal übersetzt er Wort für Wort den Inhalt der kurzen Zeilen, die ihm Nigel geschrieben hat.

    "Arno, es tut mir leid, dass ich der Überbringer schlechter Nachrichten bin. Dein Vater ist vor zwei Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er wird hier bei uns zu Hause beerdigt werden. - Ich weiß, dass du keinen Kontakt wünschst, aber wenn Du Deine Meinung ändern solltest, kannst du mich jederzeit anrufen. Nigel."
Danach folgt eine lange Telefonnummer, von der Arno weiß, dass er sie nicht anrufen wird. Er hat es versucht, vorgestern, ein paar Mal, aber seine Finger haben die Nummer nie zu Ende gewählt. Er weiß nicht, was er dem fremden Mann am anderen Ende der Leitung sagen soll. Er weiß nicht, wie er diese eine Frage stellen soll. Müde streicht er sich die Haare aus dem Gesicht.

    Kurze Zeit später findet sich Arno erneut auf den Straßen der Stadt wieder. Er kann die Stille und die Enge seiner kleinen Wohnung noch immer nicht ertragen. Das Gewitter einige Stunden zuvor hat die Schwüle, die sich zwischen den Häusern eingenistet hat, nicht vertreiben können. Die Luft ist noch immer schwer wie Blei, und Arno hat fast das Gefühl, sie mit den Händen greifen zu können. Ruhelos wandert er umher, blickt in die schillernden, paradiesversprechenden Auslagen von Reisebüros, überfliegt die Sonderangebote in Musikgeschäften, hebt in einer Buchhandlung ein Buch nach dem anderen hoch, bis ihn ein Mitarbeiter misstrauisch fragt, ob er weiterhelfen könne. Arno verneint stumm und abweisend und geht weiter.

    An der nächsten Ecke, neben einer Bäckerei, bleibt er stehen. Vor ihm auf dem Bürgersteig steht ein Windrad, dessen bunte Plastikfahnen sich schlaff in dem matten Lufthauch bewegen. Das Windrad gehört zu einem Geschäft, das sich auf Urlaubs- und Windspielzeuge spezialisiert hat. Im Schaufenster liegt ein silbernes Bocciaset, mehrere Frisbeescheiben, Fahnen und Wimpel aller Art, Skateboards mit verschiedenen Mustern und in den unterschiedlichsten Formen, sogar drei oder vier australische Boomerangs und - ein Drachen.

    Es ist ein großer, wirklich riesiger Drache; die feuerroten Flügel haben eine Spannweite von fast zwei Metern, und der dunkelblaue, fast schwarze Schweif reicht über die gesamte Schaufensterauslage. In der oberen Hälfte des imposanten Flugkörpers sind gelbliche, leuchtende Augen eingezeichnet, und die sich nach unten verjüngende andere Hälfte brüstet sich mit detailliert gezeichneten, bronzenen Schuppen. Die Verstrebungen, die den Drachen spannen und ihm seine Flugfähigkeit verleihen, sind eine ultraleichte Aluminiumkonstruktion, genauso schwarzblau wie der vielfaserige Schweif. Neben dem Drachen liegt ein kleines Schild: "Product of China. Handmade."

    Wie in Trance verharrt Arno vor dem Schaufenster und saugt den Anblick des Drachens in sich auf. Er kann sich kaum satt sehen an dem majestätischen Erscheinungsbild, und in seinen Händen glaubt er schon zu spüren, wie der Wind fordernd an der Schnur zerrt. Ohne zu wissen wie, findet er sich plötzlich in dem Laden wieder, mit dem Kopf auf das Schaufenster deutend. Ein Mitarbeiter holt den Drachen nach vorne und murmelt etwas von "letztem Exemplar", und Arnos Hand greift wie von selbst in die Hintertasche seiner Jeans und zückt seine Kreditkarte.

    Der Grüngürtel hat sich in den Jahren, seitdem er das letzte Mal hier war, kaum verändert. Es gibt ein paar Wanderwege mehr, die Rasenflächen wirken gepflegter, die Büsche sind etwas besser getrimmt. Allerdings kommt es Arno so vor, als seien die Ahornbäume, Eichen und Kastanien, die in seiner Kindheit so hoch in den Himmel ragten, geschrumpft, als hätten sie an Größe und Erhabenheit verloren. Alles ist kleiner geworden, überschaubarer - und ein wenig trister.

    Arno atmet tief durch und hockt sich auf den Boden, um den Drachen aus dem Gefängnis zu befreien, in den ihn der Verkäufer eingepfercht hat. Mühelos und mit wenigen Handgriffen, so als hätte er erst gestern noch seinen letzten Drachen zusammengebaut, steckt er die Verstrebungen ineinander und zurrt die Reißleine fest, bis die Spannung das richtige Maß erreicht hat. Dann richtet er sich auf und reckt prüfend seinen mit Spucke befeuchteten Zeigefinger in die Luft, genauso, wie er es von seinem Vater gelernt hat. Der Wind hat aufgefrischt, ein neues Gewitter, ein neuer Sturm, kündigt sich am Horizont an. Eine erste Böe zieht erwartungsvoll an dem Drachen, will ihn mitreißen, aber noch hält Arno ihn fest in seiner Hand. Er stellt sich mit beiden Beinen fest auf den Boden und wartet den nächsten Windstoß ab. Es darf weder zu schwach noch zu kräftig wehen. Geduldig hält er den Drachen in die Luft, so als wolle er eine Opfergabe darbringen. Dann kommt die richtige Böe, und Arno lässt ein Stückchen Schnur von der Rolle surren, die er in seiner rechten Hand festhält, und dann noch ein Stück. Der Drache erhebt sich erst unsicher, als zögere er einen Moment, die Erde zu verlassen, dann aber schwingt er sich behende in die Lüfte, getragen von einem nun stetig und gleichmäßig wehenden Wind und den ausgestreckten Armen von Arno, die ihn vom Boden aus bei seinem Tanz dirigieren. Hoch über seinem Kopf fliegt er nun, die bronzenen Schuppen glühen, und als die Sonnenstrahlen den Drachen streifen, leuchtet sein roter Körper auf, und es ist, als ob aus seinen feurigen Augen Flammen schlagen.

    "Ja!", schreit Arno. "Ja!"

    Immer mehr Schnur lässt er laufen, bis er nur noch die leere Rolle in seinen Händen hält und der Drachen über ihm zu einem roten Viereck verschmolzen ist. Dann ist plötzlich das Gewitter da, hat sich hinter Arnos Rücken an ihn herangepirscht und greift mit einem tiefen Grollen an. Aber diesmal lässt der Wind nicht nach, sondern peitscht unerwartet auf, fährt in die Kronen der Bäume und biegt sie zur Seite. Der kommende Sturm verfängt sich in Arnos Haaren, bläst in sein T-Shirt und zerrt fordernd an der Schnur des Drachens. Für einen Moment zögert Arno. Fast reflexartig zucken seine Arme zurück und wollen die Schnur aufwickeln, den Drachen auf die sichere Erde zurückbringen, aber dann widersteht er der Versuchung.

    Als er die nächste Sturmböe kommen fühlt, lässt er die leere Schnurrolle aus seiner Hand gleiten, und der Wind nimmt dankbar seine Gabe an, greift unter die Flügel seines Drachens und schraubt ihn höher und höher in den Himmel, bis Arno ihn nicht mehr erkennen kann.

    Zum ersten Mal seit Tagen erscheint ein schmales Lächeln auf Arnos Gesicht.