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der mann im mond

   Das Klingeln des Telefons reißt sie beide aus dem Schlaf. Es ist früh am Morgen, noch nicht einmal sechs Uhr. Marco tastet unbeholfen den Boden neben dem Bett nach dem Telefonapparat ab und nimmt dann den Hörer ans Ohr. Jonas brummelt etwas Unverständliches und dreht sich demonstrativ auf die andere Seite.

    "Ja?" sagt Marco verschlafen.

    "Marco?" fragt eine Stimme am anderen Ende der Leitung, und Marco erkennt die Stimme seiner älteren Schwester. Sofort wird er wacher.

    "Ruth", sagt er erstaunt, "wieso rufst du um diese Zeit an? Ist was passiert?"

    "Vater hat gerade angerufen", sagt seine Schwester.

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Jan

Drachenzeit

Ku-Klux-Klan

Der Mann im Mond

Tarot

Die rote Flut

   Wie immer klingt ihre Stimme ruhig und zurückhaltend, fast unbeteiligt. "Mutter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie hatte wohl einen Herzinfarkt."

    Für einen kurzen Augenblick setzt Marcos Denkvermögen aus, und er kann nicht verarbeiten, was Ruth ihm gesagt hat. "Scheiße", sagt er dann. "Wie schlimm ist es?"

    Die Leitung ist für einen Moment still, und Marco sieht seine Schwester vor sich, wie sie in ihrer typischen Art die Schultern zuckt und die Augenbrauen hochzieht. "Keine Ahnung", sagt sie. "Aus Vater war vor lauter Aufgeregtheit natürlich kaum etwas herauszubekommen. Aber ich denke, es wird nicht lebensgefährlich sein. Beschwören kann ich es allerdings nicht."

    "Weiß Jenny schon Bescheid?"

    "Ja. Ich hab sie auf ihrem Handy erwischt." Marcos und Ruths jüngere Schwester war als Simultandolmetscherin für Französisch und Italienisch ständig unterwegs und zu Hause so gut wie nie zu erreichen.

    "Und?"

    "Sie wird versuchen, eine Vertretung für die Konferenz in Mailand zu finden und so schnell wie möglich kommen." "Gut", sagt Marco. "Ich sehe zu, dass ich heute Abend da bin. Nur..." Er zögert kurz. "Ich nehme mal an, dass das alles etwas länger dauert. Kann ich in der Zeit bei dir wohnen? Du weißt schon..."

    "Marco", unterbricht ihn Ruth etwas unwirsch, "glaubst du, ich habe gedacht, du übernachtest zusammen mit Vater unter einem Dach? Du kannst bei mir auf der Gästecouch schlafen." Damit ist das Gespräch für sie beendet. Bevor sie auflegt, sagt sie noch kurz: "Grüß Jonas von mir", und dann ist die Verbindung unterbrochen.

    Marco seufzt und dreht sich zu seinem Freund. Jonas hört auf, so zu tun, als schlafe er noch und macht die Augen auf.

    "Schlechte Nachrichten", sagt Marco. "Meine Mutter hat einen Herzinfarkt gehabt. Ich werde zu meinen Eltern fahren müssen. Das Wochenende in Hamburg können wir wohl vergessen."

    Jonas streckt einen Arm aus und zieht Marco unter der Bettdecke zu sich heran. "Das ist jetzt wirklich nicht so wichtig", murmelt er. "Tut mir leid wegen deiner Mutter", sagt er dann.

    Marco schweigt.

    "Hey", sagt Jonas, "was ist los?"

    "Ich weiß nicht. Ich hab mit meinen Eltern in den letzten ... zehn? Jahren kaum ein Wort gewechselt, und ich hab immer gedacht, es würde mir nicht so viel ausmachen, wenn mal was passieren würde, schließlich waren sie sowieso nie für mich da. Aber irgendwie bin ich jetzt doch geschockt."

    "Es sind eben immer noch deine Eltern", sagt Jonas sanft.

    "Ach, was heißt das schon!" Marcos Stimme wird laut. "Davon habe ich nichts gemerkt. Zumindest nicht, nachdem ich ihnen gesagt hatte, dass ich schwul bin!"

    "Aber zumindest deine Mutter hält doch nach wie vor den Kontakt mit dir..."

    "Na toll", schnaubt Marco verärgert, "indem sie heimlich hier anruft, wenn mein Vater es nicht mitbekommt!" Er sagt eine Weile nichts, um ruhiger zu werden, und starrt die Decke an. "Und als mein Vater mich damals rausgeworfen hat, hat sie ihren Mund auch nicht aufgemacht."

    Jonas bleibt gelassen. Marcos Eltern waren schon immer ein heikles Gesprächsthema. Eines, beim dem er gelernt hat, sich nicht den Mund zu verbrennen. "Du wirst deinen Vater sehen", sagt er dann. Die Feststellung schwebt wie eine Feder im Raum und senkt sich dann langsam auf Marcos Gesicht.

    "Ja", sagt Marco zögernd.

    "Wie willst du mit ihm umgehen?"

    Marco sieht Jonas hilflos an. "Ich habe keine Ahnung", antwortet er. Er schließt die Augen und kuschelt sich noch näher an Jonas an. Lange Zeit ist es still, und Jonas glaubt schon fast, dass Marco wieder eingeschlafen ist. Marcos Schnäuzer kitzelt an seinen Brusthaaren. "Jonas?" sagt Marco plötzlich. "Ich bin froh, dass ich dich habe." Er gibt Jonas einen Kuss und seufzt wieder. "Ich muss aufstehen."



    Als Marco die Wohnungstür aufschloss und ins Wohnzimmer trat, in dem seine Eltern ihre Abende verbrachten, wusste er, dass die Szene, so wie er sie sich vorher ausgemalt hatte, nicht ablaufen würde. In seinen Vorstellungen war er einfach zu ihnen gegangen, hatte ihnen erklärt, so ganz nebenbei, dass er schwul sei, und sie hatten es akzeptiert, fast wie selbstverständlich. Seine Mutter hatte vielleicht noch etwas sorgenvoll das Gesicht verzogen 'wegen dieser Krankheit', aber das war es auch schon gewesen. Nur, während er in Gedanken durchgespielt hatte, wie er es ihnen am besten beibringen sollte, hatte er irgendwie völlig außer Acht gelassen, wie seine Eltern tatsächlich waren. Und ihr Anblick in der altvertrauten Umgebung holte ihn sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

    Idiotisch! dachte Marco, während er mit einem Kloß im Hals seinen Vater betrachtete, der wie immer in seinem Fernsehsessel saß und ein abwesendes `Guten Abend´ brummte, ohne den Kopf vom Fernseher wegzudrehen. Seine Mutter saß auf der Couch und blätterte lustlos in einer `Brigitte´.

    Ich bin ganz schön naiv, dachte er weiter. Warum sollten sie eine solche Neuigkeit so gleichgültig und beiläufig aufnehmen? Nur weil ich gerade geilen Sex hatte und ziemlich verliebt bin, werden sie keine Luftsprünge veranstalten, wenn ich ihnen beibringe, dass ihr einziger Sohn schwul ist. Im Gegenteil. Es wird Heulen und Zähneklappern geben. Scheiße.

    Verzweifelt sah er sich im Wohnzimmer um, wie um nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau zu halten. Und wenn ich einfach doch nichts sage?

    Immer noch die Klinke der Wohnzimmertür in der Hand haltend, sah Marco seine Eltern unschlüssig an. Dann gab er sich einen Ruck.

    Nein, es hilft nichts! Ich habe es schon Jenny und Ruth erzählt, und irgendwann käme es doch heraus. Besser sie erfahren es von mir, als von irgendjemand anderem. Energisch schloss er die Tür hinter sich.

    "Hört mal", sagte er, "ich muss mit euch reden..." Und dann verließ ihn schon fast wieder der Mut. Wie sagt man seinen Eltern, dass man lieber mit Männern als mit Frauen Sex macht?

    "Ich bin schwul", platzte er dann heraus.

    Wie von einem Peitschenknall getroffen sahen Marcos Eltern vom Fernsehen und der Illustrierten auf und starrten ihren Sohn an. In Zeitlupe registrierte Marco, wie sich in ihren Gesichtern Verwirrung, ungläubiges Staunen und schließlich Entsetzen breitmachte.

    Um das Schweigen im Raum irgendwie zu füllen, begann Marco zu reden. "Ich weiß es schon seit ein paar Jahren, aber ich habe es erst selber nicht glauben wollen und hatte Angst, es mir einzugestehen. Deshalb habe ich euch erst mal nichts gesagt, aber jetzt bin ich mir sicher, und..." Je mehr er redete, desto schneller und fahriger wurde seine Sprache. Es war, als wolle er gegen das unvermeidliche Unverständnis seiner Eltern anreden, als hätte er nur diese eine Chance zur Erklärung. "Ich hab es schon Ruth und Jenny beigebracht, und sie finden es auch überhaupt nicht schlimm und im Grunde, wenn man mal richtig darüber nachdenkt, ist es ja eigentlich auch nichts Besonderes -" Marco brach mitten im Satz ab. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und das Schweigen seiner Eltern, ihr scheinbares Unvermögen zu reagieren, machten ihn nur noch nervöser, als er sowieso schon war.

    "Ich wusste auch nicht, wie ich es euch sagen sollte", begann er erneut. "Ich wollte den richtigen Moment abpassen, aber irgendwie scheint es dafür keinen richtigen Moment zu geben..." Marcos Stimme verhallte im Raum. Sein Vater nahm betont langsam die Fernbedienung in die Hand und schaltete den Fernseher aus. Dann stand er auf, ging langsam auf Marco zu, und Marco fühlte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Zwei Schritte vor seinem Sohn blieb Marcos Vater stehen und sah ihm in die Augen.

    "Was hast du gesagt?", fragte er, als hätte er nicht verstanden, was Marco versucht hatte zu erklären. "Ich ... ich bin schwul." Vor lauter Angst hätte sich Marco fast verschluckt.

    Mit einer blitzschnellen Bewegung holte sein Vater aus und gab Marco eine schallende Ohrfeige. Marco drehte erschrocken den Kopf zur Seite und fasste die brennende Stelle auf seiner Wange an. Er war zwar schon häufig von seinem Vater geschlagen worden, aber nie hatte er wie jetzt Hass in den Schlägen verspürt.

    "Was hast du gesagt?", fragte sein Vater wieder und sah Marco mit versteinertem Blick an. Jetzt erst verstand Marco und erstarrte innerlich. Mein Gott, bin ich dumm gewesen, dachte er. Wie konnte ich mich nur so vertun? "Ich bin schwul", antwortete er mit fester werdender Stimme.

    Erneut schlug sein Vater zu. Diesmal drehte Marco den Kopf nicht weg, sondern sah seinem Vater kalt und herausfordernd in die Augen, wissend, dass in diesem Augenblick das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern irreparabel zerstört wurde.

    "Was hast du gesagt?"

    "Ich bin schwul." Diesmal zögerte Marco nicht, bevor er antwortete.

    Die dritte Ohrfeige traf ihn nicht mehr unerwartet. Fast gelassen nahm er den Schmerz hin, weil er plötzlich erkannte, dass sämtliche Wut seines Vaters an den Tatsachen nichts ändern würde.

    "Was hast du gesagt?" Die Drohung in der Stimme seines Vaters, und die Aufforderung, das Gesagte zurückzunehmen, ungeschehen zu machen, waren unüberhörbar.

    "Ich bin schwul", antwortete Marco wieder. "Und wenn du mich totschlägst", fügte er leise hinzu, "wird sich die Welt auch nicht rückwärts drehen. Finde dich damit ab, dass du einen schwulen Sohn hast."

    Sein Vater ließ die Hände sinken und sah Marco fast hilflos an. "Du wirst sofort mein Haus verlassen", sagte er dann tonlos. "Mit solchen ... Leuten wie mit dir will ich nichts zu tun haben. Verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen!"

    Marco warf einen Blick auf seine Mutter, die die ganze Zeit stumm und mit offenem Mund auf dem Sofa sitzen geblieben war. Auch jetzt brachte sie keinen Ton heraus.

    Wie in Trance zuckte Marco mit den Schultern und verließ das Wohnzimmer. Er ging die Treppe hinauf, in sein eigenes Zimmer und holte seinen Rucksack vom Kleiderschrank. Schnell warf er ein paar seiner Klamotten hinein, durchforstete den unaufgeräumten Fußboden nach seinen Lieblingsbüchern und packte alles zusammen. In seinem Hinterkopf hämmerte ständig der Satz: Sie werfen mich raus! Sie werfen mich tatsächlich raus! Panisch konzentrierte er sich auf das Packen seiner Sachen, um nicht plötzlich mutlos zusammenzusinken und wimmernd zu seinem Vater zu kriechen und um Verzeihung zu bitten. Als er fertig war mit Packen, schnürte er seinen Rucksack zusammen, hob ihn auf die Schultern und stand vom Boden auf.

    Als er wieder das Wohnzimmer seiner Eltern betrat, stand sein Vater mit dem Rücken zu ihm am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt. Seiner Mutter liefen die Tränen über das Gesicht, und sie sah Marco flehend an, als wolle sie ihn auffordern, das Geschehen irgendwie rückgängig zu machen. Marco wartete einen kurzen Moment, aber nichts geschah. Wie zu Wachsfiguren erstarrt verharrten seine Eltern auf ihren Plätzen. Dann drehte er sich um und schloss die Tür hinter sich.



    Marco betätigt den rechten Blinker, fährt auf den Seitenstreifen der Autobahn und tritt hart auf die Bremse. Mit einem Ruck kommt das Auto zum Stehen. Er schaltet in den Leerlauf, zieht die Handbremse an und stellt die Warnblinkanlage an. Dann stützt er schwer atmend seinen Kopf auf das Lenkrad. Seine Hände halten sich krampfhaft am Armaturenbrett des Wagens fest.

    Verdammt! denkt er wütend. Verdammt, verdammt! Zehn Jahre später, und ich bin noch keinen Schritt weiter! Jedesmal, wenn ich darüber nachdenke, wie er mich rausgeworfen hat, sehe ich rot! Warum tue ich mir das an! Dieser spießige alte Wichser! Als ob es nach all der Zeit noch eine Rolle spielen würde!

    Hilflos schlägt er mit der Faust gegen die Seitentür des Wagens. Zehn Jahre und kein einziges Wort zwischen uns! Wie soll ich bloß mit ihm umgehen? Ich wünschte, Jonas wäre dabei! Dann wäre ich mir wenigstens sicher, dass ich nicht die Fassung verliere.

    Abwesend streicht sich Marco durch sein Gesicht. Jedesmal, wenn er sich in Gedanken an die Szene erinnert, wie sein Vater ihn aus dem Haus geworfen hat, glaubt er die brennenden Stellen auf seinen Wangen wieder zu spüren, empfindet er aufs Neue das Nicht-Wahrhaben-Wollen, dass sein Vater zu so etwas fähig war, fühlt er noch einmal, wie verletzt er damals war, wie leer und allein.

    Was ihn bei der Auseinandersetzung mit seinem Vater am meisten getroffen hatte, war nicht der Rauswurf an sich - der Marco auch plötzlich ein Leben ermöglichte, so wie er es sich vorstellte - sondern, dass sein Vater in der Lage war, sich ohne größere Probleme von ihm loszusagen, innerhalb von wenigen Minuten leugnen konnte, jemals einen Sohn gehabt zu haben, so tun konnte, als hätte Marco niemals existiert.

    Marcos Verletzungen waren so groß, dass er versuchte, sie soweit wie möglich in seinem Unterbewusstsein abzuschotten, nicht daran zu denken. Stattdessen konzentrierte er sich in der unmittelbaren Zeit nach dem Bruch mit seinen Eltern darauf, sein Leben neu zu organisieren. Er zog zu seinem damaligen Freund, einem sieben Jahre älteren Mann, der ihn aber, wie Marco bald herausfand, nur mit gemischten Gefühlen aufnahm. Seine restlichen Sachen aus dem Haus seiner Eltern ließ er von Freunden abholen, zu einer Tageszeit, in der statt seiner Eltern nur seine Schwestern zu Hause waren. Er beendete seine Lehre zum Industriekaufmann und war ein Jahr später endlich in der Lage, auch finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Nachdem er kurz darauf einen Job in einer anderen Stadt angeboten bekam, machte er noch einmal reinen Tisch, trennte sich von seinem Freund und begann, so weit wie möglich von zu Hause entfernt, ein neues Leben in einer eigenen Wohnung, mit neuen Freunden und ohne Geschichte. Wenn ihn jemand nach seiner Kindheit fragte, bekam sein Gesicht einen leeren Ausdruck, ein bitterer Zug umspielte seine Mundwinkel und er antwortete, dass er keine gehabt habe.

    Einzig und allein den Kontakt zu seinen beiden Schwestern hielt er aufrecht. Ruth und Jenny bildeten von da an seine Brücke in die Vergangenheit, gaben ihm das Gefühl, auch weiterhin eine Familie zu haben. Neben häufigen Telefonaten, verabredeten die drei Geschwister, sich regelmäßig einmal im Monat zu sehen und so ihren Kontakt zu halten, Neuigkeiten und Probleme auszutauschen und nicht aneinander vorbei zu leben. Die ersten Treffen verliefen ziemlich stürmisch, weil natürlich vor allen Dingen darüber diskutiert wurde, wie Marco von seinem Vater aus dem Haus geworfen wurde. Marco erinnerte sich, wie er bei einem dieser frühen Treffen wütend aus dem Restaurant gestürmt war, in dem sie sich zum Essen verabredet hatten, zwei Tage lang schmollend zu Hause gesessen hatte und mit dem Anrufbeantworter alle Gesprächsversuche abgeblockt hatte. Insbesondere Jenny versuchte, ihre Eltern zu verteidigen, indem sie Dinge wie deren geringe Schulbildung, ihr Unvermögen, über ihren eigenen Schatten zu springen, und die Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen, in die Diskussion einbrachte. Marco wischte die meisten Argumente mit einer Handbewegung zur Seite, aber er machte nie den Fehler, seine Schwestern zu zwingen, zwischen ihm und seinen Eltern zu wählen. Und so entwickelten sich die monatlichen Treffen, erhielten einen fast institutionellen Charakter und vermittelten Marco im Laufe der Zeit ein Gefühl von Geborgenheit und das Wissen, ein Stück seiner Familie in sein neues Leben hinübergerettet zu haben.

    Mit den Jahren begann sich sogar Marcos Verhältnis zu seiner Mutter bis zu einem gewissen Punkt zu entspannen. Irgendwann richtete Jenny, die zu diesem Zeitpunkt noch bei ihren Eltern wohnte, zaghaft Grüße von seiner Mutter aus und übermittelte den Wunsch, dass seine Mutter mit Marco telefonieren wollte. Marco gab zögernd sein Einverständnis, und Wochen später, als er die Episode schon fast wieder vergessen hatte, klingelte das Telefon, und er hatte tatsächlich seine Mutter am Apparat. Natürlich brach sie beim Hören seiner Stimme sofort in Tränen aus, und Marco wurde wütend, als er bemerkte, dass sie sich nur dann traute, ihn anzurufen, wenn sein Vater aus dem Haus war. Aber nach einiger Zeit war er zumindest in der Lage, ihr einige Belanglosigkeiten aus seinem neuen Leben zu erzählen und so ihr Verhältnis auf einem niedrigen Niveau zu entspannen. Dass es bei diesen Gesprächen nie um Marcos Lebensstil oder um seinen Rauswurf von zu Hause ging, verstand sich dabei von selbst. Sowohl seine Mutter als auch Marco richteten um beide Themen einen Schutzwall aus Tabus auf, den sie niemals auch nur antippten, um nicht die Dämme zu fluten.

    Und jetzt liegt sie im Krankenhaus und ist todkrank, denkt Marco. Was für eine völlig verfahrene Situation! Im Grunde ist das alles eine schlechte Seifenoper. Denver-Clan für Arme. Der einzige Unterschied ist, dass ich das hier jetzt alles in der Realität durchlebe, was ich mir früher nur im Fernsehen angesehen habe. Wie grotesk!

    Marco läßt den Motor des Wagens wieder an und setzt den Blinker. Langsam hat er sich soweit wieder beruhigt, dass er in der Lage ist weiterzufahren. Um sich besser konzentrieren zu können, fischt er eine Cassette mit Liedern von Billy Joel aus dem Handschuhfach, wirft sie in den Recorder und lässt sich von der Musik ablenken.

    "...you got your passion, you got your pride, but don´t you know that only fools are satisfied? Dream on but don´t imagine they´ll all come true..." singt Marco leise mit.

    Seine Gesichtszüge entspannen sich etwas und er beschleunigt den Motor, reiht sich wieder ein in den fließenden Verkehr. Bis zu Ruth hat er noch einen weiten Weg vor sich, und er hat versprochen, am Abend da zu sein. Die Landschaft am Rande der Autobahn beginnt an seinen Augen vorbeizufliegen.



    Weit nach zehn Uhr abends biegt Marco vor dem Haus ein, in dem Ruth wohnt. Er hat in acht Stunden knapp sechshundert Kilometer zurückgelegt und ist ziemlich erschöpft. Gerade als er den Wagen parkt, biegt ein Taxi um die Ecke, aus dem gleich darauf Jenny aussteigt und mit einem Gewirr von Koffern und Taschen um sie herum auf dem Gehsteig zurückbleibt. Marco sprintet zu ihr herüber und nimmt sie in die Arme.

    "Hallo, kleine Schwester!" sagt er zärtlich und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

    "Oh bitte, Marco!", sagt Jenny abwehrend und wischt sich demonstrativ das Gesicht ab. "Du weißt genau, wie ich diese feuchten Schmatzer hasse!" Dennoch muss sie grinsen. "Hey", sagt sie, "schön, dich zu sehen!"

    "Wie kommt es, dass du schon hier bist?" fragt Marco, während er ihr hilft, ihr Gepäck aufzusammeln. "Ruth hat gesagt, du würdest erst in den nächsten Tagen kommen können."

    "Ach", sagt Jenny, "irgendwie war es plötzlich gar kein Problem, meine Termine abzusagen und jemand anderem aufzuhalsen. Als ich erst mal damit herausgerückt bin, dass meine Mutter einen Herzinfarkt hatte, haben sich sämtliche Kollegen vor Hilfsbereitschaft fast überschlagen. Zum Schluss hatte ich fast das Gefühl, ich sei diejenige, die krank sei. Kannst du dir das vorstellen? Einer hat mir doch tatsächlich einen Stuhl angeboten! Als ob ich jeden Moment in Ohnmacht fallen oder entbinden müsste!"

    "Mein Gott", stöhnt Marco, während sie Jennys Taschen zu Ruth die Treppe herauftragen, "musst du immer soviel Krempel mitschleppen?"

    "Jetzt stell dich nicht so an. Ich denke, du gehst regelmäßig zum Training?!"

    "Ja schon", sagt Marco, "aber auch da stemme ich keine drei Zentner!"

    Die Begrüßung der drei Geschwister ist herzlich. Das letzte Mal, als sie sich gesehen haben, ist schon über fünf Wochen her, und dass sie sich diesmal nicht treffen, um Neuigkeiten auszutauschen, sondern einen ernsteren Grund haben, sickert bei allen dreien nur langsam ins Bewusstsein ein.

    Während Marco bei Jonas anruft, um ihm zu sagen, dass er gut angekommen ist, mixt sich Jenny einen starken Drink, flegelt sich auf das Sofa und versucht ein wenig zu entspannen. Ruth ist derweil in der Küche damit beschäftigt, Spaghetti zu kochen.

    "Wie geht es Jonas?", fragt Jenny, als Marco nach kurzer Zeit den Hörer aus der Hand legt.

    "Es geht ihm gut", sagt Marco. "Die 3er-Kombitherapie schlägt weiterhin an. Keinerlei Symptome." Jonas´ HIV-Infektion ist zwischen den dreien schon lange kein Thema mehr, war es im Grunde auch nur, als Marco Jonas vor drei Jahren kennen lernte, und beide bald darauf beschlossen zusammenzuziehen.

    Ruth ruft und erklärt, dass die Spaghetti fertig seien. Zusammen gehen Marco und Jenny in die Küche, setzen sich an den großen runden Holztisch, und alle drei fangen an zu essen. Ruth öffnet eine Flasche Wein, und für einen Moment schweigend, prosten sie sich zu.

    Während des Essens tauschen sie Belanglosigkeiten aus, erzählen Neuigkeiten von ihren Jobs. Alle vermeiden es möglichst, das Gespräch auf ihre Mutter zu bringen, schleichen wie Katzen um den heißen Brei.

    Erst nach Mitternacht, als Ruth den Tisch abräumt und anschließend Kaffee aufschüttet, werden ihre Mienen ernster.

    "Also", sagt Marco zu Ruth gewandt, "schieß schon los. Wie geht es ihr?"

    Ruth streicht sich ein paar Haare aus dem Gesicht, legt die Hände flach auf den Tisch und sieht ihren Bruder an. Marco bemerkt, dass sie müde aussieht.

    "Wie soll es ihr schon gehen?" Sie zuckt wie immer, wenn sie etwas offensichtlich findet, mit den Achseln. "Es geht ihr nicht gut."

    "Kann man mit ihr sprechen? Ist sie bei Bewusstsein?", fragt Jenny und schüttet etwas Zucker in ihren Kaffee. "Ja", sagt Ruth, "natürlich. Sie darf sich nur nicht anstrengen, und die Besuche müssen kurz gehalten sein. Anordnung des Arztes. Sie hat schon nach dir gefragt, Jenny."

    "Nach mir nicht?", sagt Marco.

    Ruth sieht auf ihre Fingernägel. "Nein", antwortet sie. "Aber ich glaube, sie traut sich nur nicht wegen Vater."

    Jenny stöhnt auf. "Aber das ist doch absurd!", ruft sie aus. "Es ist doch völlig egal, was vor zehn Jahren mal vorgefallen ist, in einer solchen Situation..."

    "Nein, ist schon okay", unterbricht Marco sie, "wenn sie nicht will oder nicht kann, ist das ihr Problem. Ich werde mich nicht aufdrängen."

    "Ich habe ihr trotzdem erzählt, dass du auch kommen würdest", sagt Ruth, "vielleicht ist es an der Zeit, sich über bestimmte Tabus hinwegzusetzen." Sie seufzt und schaut ihren Bruder wieder an. "Ich glaube wirklich, sie würde dich gerne sehen."

    Alle drei schweigen eine Weile. "Und Vater?", sagt Marco dann.

    Ruth verdreht die Augen. "Im Moment ist er völlig verängstigt wegen Mutter. Er ist ja noch nicht mal in der Lage, alleine in den Supermarkt zu gehen. Sieht so aus, als müsste ich ihm jeden Tag sein Mittagessen kochen oder zumindest etwas zu essen besorgen. Er kann nicht Staub saugen, und er weiß nicht, wo die Putzmittel für das Badezimmer stehen. Ich glaube, er weiß nicht mal, wie man den Herd bedient. Ich kann gar nicht begreifen, wie er sich die letzten fünfunddreißig Jahre so erfolgreich vor jeder Hausarbeit drücken konnte! Also, von daher ... ich glaube, Mutters Zusammenbruch hat ihm, um es mal vorsichtig zu formulieren, gefühlsmäßig ziemlich zugesetzt. Ob er dich jetzt sehen will, hat er nicht gesagt. Wahrscheinlich ist er bisher gar nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken."

    "Und es hat auch überhaupt nichts miteinander zu tun", wirft Jenny ein. "Es geht jetzt nicht darum, ob Vater sich weigert, von Marco zu sprechen oder ihn zu sehen, sondern es geht darum, ob Mutter das will. Und du natürlich auch, Marco", fügt sie hinzu. "Und wenn das so ist, werden wir uns irgendwie was ausdenken müssen, um Vater solange abzulenken, wie Marco Mutter besucht."

    "Ich denke überhaupt nicht daran!" sagt Marco hitzig. "Ich schleiche mich doch nicht heimlich ins Krankenhaus, nur damit Vater nicht in die Verlegenheit kommt, mit mir konfrontiert zu werden!"

    Ruth und Jenny sehen sich an.

    "Marco", sagt Ruth, "jetzt ist nicht die Zeit, alte Rechnungen zu begleichen."

    "Das weiß ich auch!" antwortet Marco. "Aber ich werde mich wegen ihm auch nicht unsichtbar machen. Wenn Mutter mich sehen will, schön. Es ist vielleicht die letzte Chance, die wir haben, unser Verhältnis irgendwie zu bereinigen. Möglicherweise ist das ja einer der Gründe, warum ich jetzt hier bin. Vater..." Marco hält inne. "Ach, ich weiß auch nicht", sagt er dann abwehrend und stützt seinen Kopf in seine Hände.

    "Als wir klein waren, war er ein guter Vater", sagt Ruth. "Auch für dich."

    "Das ist nicht fair, Ruth!", sagt Jenny empört.

    "Aber es ist die Wahrheit."

    "Aber es ist auch wahr, dass er nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollte, als er erfahren hat, dass sein Sohn mit Männern ins Bett geht!", sagt Marco hart. "Und welche Wahrheit ist die richtige?"



    Nachts, auf der Gästecouch seiner Schwester, kann Marco nicht einschlafen. Der Zeiger des Weckers, der neben dem Bett steht, wandert von eins auf halb zwei, auf zwei Uhr. Der fast volle Mond scheint ins Wohnzimmer, und das Bücherregal seiner Schwester wirft riesige, fremde Schatten in das Zimmer. Schatten, die ihn an irgendetwas erinnern. Marco dreht sich unruhig hin und her, bei jeder Bewegung knarrt der Holzboden unter ihm. Aus der Küche hört er einen Wasserhahn tropfen. Immer wieder döst Marco ein, um nur wenige Sekunden später wieder hochzuschrecken. Endlich setzt er sich unwirsch auf und reibt sich müde und zerschlagen die Augen. Er schwingt die Beine auf den Boden, steht auf und holt sich ein Glas Mineralwasser aus dem Kühlschrank. In langsamen Zügen trinkt er das Glas leer. Die Kohlensäure rumort in seinem Magen. Marco geht zurück zu seinem Bett und zuckt plötzlich zusammen. Dann atmet er tief aus. Noch ein Schatten, ein Schatten, den die große Yucca-Palme am Fenster auf den Rahmen der Wohnungstür wirft. Im ersten Moment hat Marco gedacht...

    ...aber er bildet sich das nicht ein! Der Mond scheint in sein Zimmer, riesig und rund und gelb, und da ist ein Mann! Ein fremder Mann, der in seinem Zimmer steht! Da, direkt neben der Zimmertür, unter dem Poster mit den Fußballspielern. Der Mann im Mond, von dem ihm seine Mutter vor drei Tagen vor dem Einschlafen erzählt hat, der so böse war und deshalb von der Nachtfee auf den Mond verbannt worden ist. Er hat ein Bündel Holz über der Schulter, und gleich wird er auf ihn zuspringen und ihn mitnehmen! Marco sitzt senkrecht in seinem Bett und schreit. Er schreit und schreit und schreit, denn der Mann im Mond geht nicht weg, und er hört erst auf zu schreien, als er sieht, wie im Flur vor seinem Zimmer das Licht angeht, die Tür langsam aufgemacht wird und sein Vater im Schlafanzug und mit gähnendem Mund im Lichtschein der Lampe steht und in sein Zimmer kommt.

    "Na, mein kleiner Held!", sagt sein Vater. Sein Haar ist ganz zerzaust vom Schlaf. "Was ist denn los?"

    Marco laufen die Tränen über das Gesicht, sowohl vor Angst als auch vor Erleichterung, dass jetzt sein Vater da ist, um ihn zu beschützen. "Der ... der Mann im Mond!", schluchzt er. "Der Mann im Mond wollte mich holen!"

    Marcos Vater setzt sich auf den Bettrand und hält Marco solange in seinen Armen fest, bis er nicht mehr weint. Dabei flüstert er leise und wiegt seinen Sohn sanft hin und her. Langsam beruhigt sich Marco wieder. Die Arme seines Vaters und der Duft von Männlichkeit und Stärke lassen bei ihm ein Gefühl von Geborgenheit entstehen.

    Nach einer Weile schaut sein Vater ihn an. "Na, ist es wieder besser?" fragt er.

    Marco nickt stumm.

    "Hast du jetzt keine Angst mehr?"

    "Doch." sagt Marco. "Ein bisschen."

    Sein Vater zieht die Stirn hoch. "Immer noch?", fragt er erstaunt und überlegt eine Weile. "Zeig mir mal, wo du ihn gesehen hast", sagt er dann.

    Marcos ausgestreckter Finger weist stumm auf die Stelle neben der Zimmertür, wo er den Mann in Mond gesehen hat. Dann sieht er gespannt seinen Vater an.

    "Aha", sagt sein Vater laut und steht auf. In seinem Blick kann Marco ein Lächeln sehen. Er knipst die kleine Nachttischlampe neben Marcos Bett an, und als Marcos Augen sich nach kurzer Zeit an die Helligkeit gewöhnt haben, sieht er genau dasselbe wie sein Vater, nämlich den Garderobenständer, den er gestern Nachmittag unter großen Anstrengungen vom Flur in sein Zimmer geschleppt hatte, weil er fand, dass er genauso nötig eine Garderobenablage brauchte wie seine Eltern. Oben auf der Hutleiste liegt der Hut, den sein Vater immer aufzieht, wenn er zur Arbeit geht, und auf dem Kleiderbügel hängt der Mantel seiner Mutter. Seine Mutter hatte noch mit ihm diskutiert und versucht, ihm zu erklären, dass sie es ziemlich unpraktisch finde, jedesmal wegen ihres Mantels in sein Zimmer gehen zu müssen und dass er seinen Anorak sowieso immer auf den Boden werfe, also gar keinen Garderobenständer brauche, aber Marco hatte ihn trotzdem nach oben in sein Zimmer geschleppt. Sein Vater sieht ihn vielsagend an. "Vielleicht solltest du morgen früh alles wieder nach unten tragen", sagt er nur.

    "Ja", sagt Marco kleinlaut.

    "Und", sagt sein Vater dann, "hast du jetzt keine Angst mehr?"

    Marco schüttelt den Kopf. Er legt sich zurück in sein Bett, nimmt seinen Teddy in den Arm und kuschelt sich in die Decke ein.

    Sein Vater streicht ihm über den Kopf. "So", sagt er, "und jetzt wird endlich wieder geschlafen."

    Aber das hört Marco schon kaum noch...



    Am nächsten Morgen wird Marco durch das Geräusch der Dusche im Badezimmer geweckt. Noch im Halbschlaf dreht er sich auf die Seite, und erst als er merkt, dass Jonas nicht neben ihm liegt, wird er richtig wach. Ruth kommt aus dem Badezimmer und trocknet sich mit einem Handtuch die Haare ab. "Morgen", sagt sie. "Gut geschlafen?"

    Marco schüttelt den Kopf. "Nicht so besonders", sagt er. "Du solltest deine Yucca-Palme woanders hinstellen. So wie sie jetzt steht, löst sie bei mir alte Kindheitstraumen aus."

    Ruth sieht ihn verständnislos an. "Was ist los?"

    "Ach nichts!", sagt Marco. "Vergiss es. Wahrscheinlich bin ich es nur nicht gewohnt, alleine zu schlafen." Jenny macht verschlafen die Schlafzimmertür auf. "Müsst ihr so einen Krach machen? Gibt´s Kaffee?" nuschelt sie.

    Ruth deutet mit einer Kopfbewegung in die Küche, in der man die Kaffeemaschine brodeln hören kann. "Ich hatte schon fast vergessen, dass du morgens beim Aufstehen immer ungenießbar bist", sagt sie missbilligend zu ihrer Schwester.

    "Ja, ja, schon gut", murmelt Jenny und schlurft in die Küche. Nachdem sie ihren zweiten Becher Kaffee getrunken hat, ist sie ansprechbar und beginnt, zusammen mit ihren Geschwistern den Tag zu planen.

    "Ihr solltet Mutter nicht überfordern", sagt Ruth. "Der Arzt hat gesagt, es sei kein leichter Herzinfarkt gewesen, und sie ist immer noch ziemlich mitgenommen. Von daher würde ich vorschlagen, dass Jenny zuerst alleine reingeht und sie schonend darauf vorbereitet, dass Marco auch da ist. Dann ist die Überraschung nicht mehr ganz so groß, wenn du an ihr Bett kommst." Sie nimmt ihre Tasse in beide Hände. "Und versprecht euch nicht zu viel. Sie sieht wirklich schlecht aus."

    "Machst du dir Sorgen?", fragt Marco leise.

    Zum ersten Mal, seit ihre Geschwister da sind, findet Ruth keine Worte, und es sieht einen Moment lang so aus, als würde sie die Fassung verlieren. Dann reißt sie sich zusammen. "Nein, nicht wirklich. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Der Arzt hat gesagt, dass sie wieder auf die Beine kommen wird. Es wird halt nur eine Weile dauern, und sie wird alles etwas langsamer als bisher angehen müssen. Ich glaube, was mich wirklich schockiert hat, war Vaters Verhalten", fügt sie hinzu. "Er hat mich ja direkt aus dem Krankenhaus angerufen. Als das mit Mutter passiert ist, hat er zum Glück sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt, und er hat gleich den Krankenwagen alarmiert. Als er von Mutters Infarkt erzählt hat, hat er angefangen zu weinen wie ein Schlosshund, und ich konnte ihn gar nicht mehr beruhigen. Er ist richtig zusammengebrochen und war plötzlich wie ein kleines Kind." Sie schweigt, und die Stille verleiht ihren Worten Nachdruck. "Wisst ihr", sagt sie dann, "ich kenne Vater nur als den starken, wortkargen Mann, der nie Gefühle zeigt, und dieser Ausbruch passte so überhaupt nicht zu dem Bild, was ich von ihm habe.""Phh", macht Marco, aber sein Gesichtsausdruck ist nachdenklich."Also schön", sagt Jenny nach einer Weile und steht auf. "Los komm, Marco, wir nehmen deinen Wagen und fahren jetzt zu Mutter." Sie sieht ihren Bruder auffordernd an. "Oder willst du doch noch kneifen?"

    "Quatsch", sagt Marco mürrisch.

    "Und ich fahre eben zu Vater rüber und sehe nach, ob er in der Lage war, sich Frühstück zu machen", sagt Ruth. Im Auto sind er und Jenny merkwürdig still. Die Fahrt durch die Stadt weckt in Marco fast vergessene Erinnerungen. Obwohl er während der Fahrt seine Konzentration auf dem Verkehr ruhen lässt, schweifen seine Augen immer wieder an die Seite, und er erkennt viele Plätze seiner Kindheit wieder. Dort der Spielplatz, wo er vom Klettergerüst gefallen ist und ein Loch im Kopf hatte, das genäht werden musste, die Schule, in die er bis zum Realschulabschluss gegangen ist, der Supermarkt, in dem seine Mutter immer eingekauft hat. Marco muss unwillkürlich grinsen, als er an den Metzger denkt, der hinter der Fleischtheke bediente, und den er als Zwölf- oder Dreizehnjähriger schon angehimmelt hatte. Und seine Mutter hatte sich immer gewundert, warum er jedesmal freiwillig mit ihr einkaufen ging.

    "Es ist lange her, dass ich hier war", bemerkt er irgendwann.

    Jenny sieht ihn an. "Zehn Jahre", sagt sie.

    "Ja", sagt Marco. "Zehn Jahre."

    Nach einer Viertelstunde Fahrt sind sie am Krankenhaus, und während Marco den Wagen parkt, atmet er tief durch. Gleich ist es soweit, und er wird zum ersten Mal, seitdem er von zu Hause wegging, seiner Mutter gegenüberstehen. Jenny zerrt an seinem Ärmel.

    "Los, komm. Es wird nicht besser, wenn du es hinauszögerst", sagt sie.

    Marco nickt. Zusammen betreten sie den Eingang des Krankenhauses. Sofort umgibt sie der Geruch von Desinfektionsmittel und Krankheit und die harte, trockene Luft einer Klimaanlage. Sie fahren mit dem Aufzug zur Intensivstation, auf der ihre Mutter liegt. Als die Aufzugstüren aufgehen, sehen sie geschäftige Pfleger und Schwestern hin und her laufen. Langsam geht Marco den Gang entlang, auf das Zimmer zu, in dem seine Mutter liegt. Er hat es sich vorgenommen, und er wird es hinter sich bringen. Jenny zupft schon wieder an seinem Ärmel. Unwirsch will er Jennys Hand abschütteln, aber etwas in ihrem Verhalten lässt ihn stocken und stehen bleiben.

    "Da hinten", sagt Jenny leise. "Vater."

    Marco blickt den Gang entlang und sieht vor einer Zimmertür eine Gestalt auf einem einzelnen Stuhl sitzen, den Oberkörper nach vorne gelehnt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände vor das Gesicht haltend. Plötzlich läuft Marco der Angstschweiß den Rücken hinunter. In Sekundenschnelle ist sein Hemd hinten nassgeschwitzt. Instinktiv will er sich hinter dem Rücken seiner Schwester verstecken und macht einen Schritt zurück.

    "Du kannst nicht zurück", zischt Jenny ihm zu. "Er sieht dich sowieso jeden Moment. Da musst du jetzt durch!" Sie nimmt Marco am Arm, und es sieht so aus, als wolle sie ihn weiterschleifen.

    Sein Vater nimmt die Hände vom Gesicht und blickt sie an. Hinter Marco gehen die Türen des Aufzugs erneut auf, und Ruth kommt herausgestürzt. Als Marco sich zu ihr umdreht, erkennt sie die Situation und macht ihm mit einer kurzen Handbewegung deutlich, dass sie nicht wusste, dass ihr Vater schon ins Krankenhaus unterwegs war, und bleibt zurück. Dann stehen Jenny und Marco plötzlich vor ihrem Vater.

    Marco ist erschüttert. Fast hätte er seinen Vater nicht wieder erkannt. Er ist alt geworden. Falten durchziehen sein Gesicht, an die sich Marco nicht erinnern kann, und auf dem Kopf hat er weniger Haare als vor zehn Jahren. Aber was Marco noch mehr verwirrt, sind die tiefen Ränder unter den Augen, die rotgeweinten Pupillen, die hängenden Schultern. Auf seinem blauen Oberhemd ist ein Kaffeefleck zu sehen und in seinem Blick liegt Verzweiflung. Es fällt Marco schwer, den Vater wieder zu erkennen, der ihn aus dem Haus geworfen hat und den er dafür zehn Jahre seines Lebens gehasst hat, gehasst für sein Unverständnis, seine Intoleranz und seinen Liebesentzug. Aber der Mann, der seinen Hass erwidern könnte, ist nicht mehr vorhanden. Den Mann, der mit drei Ohrfeigen Marcos Kindheit und die Erinnerung daran zerstört hat, gibt es nicht mehr.

    "Hallo, Jenny", sagt sein Vater. Er steht auf und lässt sich von seiner jüngsten Tochter in den Arm nehmen. Nach einer Weile löst er sich aus der Umarmung. "Wen hat du mitge-", beginnt er und bricht dann ab. In seinen Augen spiegelt sich plötzliches Erkennen wider, als er Marco ansieht, und die Züge um seinen Mund verhärten sich. Es scheint, als habe sich nichts geändert.

    Hinter ihnen nähern sich Schritte, Marco wird ein wenig zurückgedrängt, und dann steht auf einmal Ruth zwischen ihm und seinem Vater."Oh nein!" schnaubt sie, und Marco hat sie noch nie in seinem Leben so wütend gesehen.

    "Ihr werdet dieses Spiel gar nicht erst weiterspielen! Es ist mir völlig egal, wie ihr euch fühlt, aber ich werde jetzt mit Jenny zu Mutter gehen, und wenn wir wieder rauskommen, habt ihr entweder ein paar Schritte aufeinander zugemacht, oder ihr seid beide verschwunden!" Damit zieht sie ihre Schwester in das Krankenzimmer und macht die Tür vor Marco und seinem Vater zu.

    Verblüfft bleibt Marco vor der verschlossenen Tür stehen. Erst nach einigen Augenblicken merkt er, dass sein Vater ihm den Rücken zugedreht hat und langsam von ihm weggeht, den Gang entlang. Unschlüssig bleibt Marco einen Moment stehen, und dann geht er ihm nach. Vor einem der schmutzigen Fenster holt er ihn ein. Zusammen bleiben sie stehen und starren hinaus. Beide schweigen, und die Stille um sie herum wirkt wie eine Decke, die jedes Geräusch von außen abhält.

    "Wie geht es ihr?", fragt Marco dann leise.

    Erst unmerklich, und dann immer stärker beginnen die Schultern seines Vaters zu zittern, und Marco sieht, wie sein Vater anfängt zu weinen. Tränen laufen ihm über das Gesicht, und die Maske, die er für Marco aufgesetzt hatte, beginnt sich aufzulösen. Marco sieht betroffen zu, aber er ist nicht in der Lage, seinen Vater zu berühren. Erst nach einer Weile beruhigt sich sein Vater wieder. Er schnaubt sich die Nase und sieht Marco an.

    "Als ich klein war", sagt Marco, "habe ich mich vor dem Mann im Mond gefürchtet. Ich bin nachts aufgewacht und habe geschrien, weil ich dachte, der Mann im Mond sei in meinem Zimmer und wolle mich holen. Und du bist gekommen und hast mich getröstet. Erinnerst du dich?"

    Marcos Vater nickt.

    "Damals", sagt Marco und blickt starr nach draußen, "damals warst du ein guter Vater."